Schluss mit Ladenschluss

Bald sollen alle fast überall und immer einkaufen gehen können – das jedenfalls wollen die meisten Bundesländer

Auch der Einzelhandel glaubt nicht daran, dass alle Geschäfte öffnen: „Das rechnet sich kaum“

Von Kai Schöneberg

Sozial ist, was Arbeit schafft, lautet einer der großen Slogans der großen Koalition. Gestern segnete auch der Bundesrat eine Reform ab, die weder sozial verträglich ist noch Jobs schaffen dürfte – so sehen das jedenfalls Gewerkschaften und Kirchen. Die nach jahrelangem Hickhack verabschiedete Föderalismusreform macht die Ladenschlusszeiten zur Ländersache. Ministerpräsident Roland Koch (CDU) will seine Hessen zu den ersten Rund-um-die-Uhr-Shoppern machen – gegen den Willen der Einzelhändler (siehe Interview). Insgesamt soll künftig in 11 der 16 Bundesländer von Montag bis Samstag ohne Limit eingekauft werden können.

Mecklenburg-Vorpommern will in seinen Badeorten sogar den heiligen Sonntag fürs Einkaufserlebnis opfern. Bremen, Sachsen und Bayern grübeln noch über eine Änderung der Ladenschlusszeiten, allein das CDU-geführte Saarland will bislang alles beim Alten belassen. Wenn die Landtage die neuen Gesetze verabschiedet haben, dürften die Regelungen frühestens zum 1. Januar in Kraft treten.

Die Ladenöffner meinen, mehr Zeit zum Einkaufen ließe automatisch die Kassen in Deutschland klingeln. „Jedes zusätzliche Angebot führt zu mehr Nachfrage“, sagt Wirtschaftsminister Dietrich Austermann (CDU) aus Schleswig-Holstein, wo bereits jetzt die Geschäfte in 70 Badeorten auch sonntags öffnen dürfen. Das bedeute, neue Arbeitsplätze könnten entstehen. Von einer neuen „Einzelhandelslandschaft“ träumt gar Hubertus Pellengahr vom Hauptverband des deutschen Einzelhandels (HDE). Künftig würden allerorten kleine Läden sprießen, die den Tankstellen Konkurrenz machen. „Für die Kunden ist es doch eine Erlösung, wenn sie abends in einem kleinen Supermarkt frische Sachen kaufen können, eine ganz andere Auswahl und Superservice haben“, sagt Pellengahr. Und: „Das ist doch an den Tankstellen relativ trostlos – und dazu auch noch überteuert.“

„Die Kleinen gehen baden“, fürchtet hingegen Ulrich Dalibor. Seit Ende der 80er-Jahre predigt der heutige Fachgruppenleiter Einzelhandel in der Ver.di-Bundeszentrale, dass längere Ladenöffnungszeiten nicht automatisch mehr Umsatz und Arbeitsplätze bei Tante Emma, Aldi & Co. heißen. „Die Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen, dass wir immer tiefer ins Fiasko geschlittert sind“, sagt Dalibor. 1989 fing es an mit dem bei den Verkäufern verhassten „Schlado“ – kurz für „scheißlangen Donnerstag“. Seit 1996 können die Deutschen an allen Werktagen bis 20 Uhr einkaufen, seit drei Jahren auch samstags.

Resultat: Die Beschäftigtenzahl im Einzelhandel nahm nicht nur allein in den vergangenen sechs Jahren um etwa 90.000 auf derzeit etwa 2,46 Millionen ab. Die Statistik zeigt auch eine kleine Revolution in der Art der Beschäftigungsverhältnisse: Insgesamt gibt es inzwischen nicht nur mehr Teilzeit- als Vollzeitjobs. Die Zahl der geringfügig Beschäftigten ohne sozialversicherungspflichtige Verträge sank seit dem Jahr 2000 sogar um ein Drittel auf inzwischen 713.000 zu. Das heißt: Immer mehr Jobs im Einzelhandel machen arm. Vor allem Frauen sind betroffen, weil sie häufig an den Kassen sitzen.

„Der Trend zu den Billigjobs wird anhalten, wenn die Fahrt für längere Öffnungszeiten frei ist“, sagt Gewerkschafter Dalibor. Und: „Nur Discounter, Garten- oder Baumärkte und vielleicht noch einige Kaufhäuser können es sich leisten, abends und nachts Personal zu beschäftigen, der Rest geht kaputt.“ Das mit dem späten Einkaufen und den neuen Jobs sei schlicht eine Milchmädchenrechnung. Dalibor: „Der Einzelhandel ist doch kein Freizeitpark, in dem sich die Kunden durch bloße Anwesenheit vergnügen.“

Bestes Beispiel für viele Ver.di-Leute: die in vielen Städten während der Weltmeisterschaft ausgedehnten Öffnungszeiten. Die Fans guckten nämlich lieber Fußball, als in der Schlange zu stehen. Fanartikel boomten, aber viele Einzelhändler machten bittere Erfahrungen mit der großen Freiheit. „Oft hat der Umsatz nicht ausgereicht, um die Mehrausgaben für zusätzliches Personal auszugleichen“, sagt ein Sprecher des Hamburger Einzelhandels.

Mecklenburg-Vorpommern will in seinen Badeorten auch sonntags shoppen lassen

Vor der Freigabe der Öffnungszeiten stehen wohl noch einige Termine vor Gericht. „Das Recht, die Ladenöffnungszeiten zu verändern, geht auf die Länder über. Nicht aber das Recht des Arbeitsschutzes“, sagt Dalibor. Auch das Bundesarbeitsministerium sieht einen Konflikt zwischen Ladenschluss- und Arbeitsschutzgesetz. Genau da will Ver.di einhaken. Die Gewerkschaft hofft, dass der Bund ein Wort mitreden wird – und so zumindest die Sonntagsöffnung erschwert.

Auch der auf die Freigabe drängende Einzelhandelsverband HDE räumt Probleme ein. „Bei den Sonntagsöffnungen begeben wir uns in die Zone der Rechtsunsicherheit“, sagt Geschäftsführer Pellengahr. Der Bund solle deshalb das Arbeitszeitgesetz ändern und klarstellen, dass die Zahl der offenen Sonntage im Einzelhandel begrenzt sei. Vom Schreckgespenst erzwungener Nachtarbeit aber will der Lobbyist nichts wissen: Ein Geschäftsleiter brauche schon jetzt die Zustimmung seiner Beschäftigten zu veränderten Öffnungszeiten. Pellengahr: „Sagen die Nein, bleibt die Ladentür zu.“

Eine wirkliche Revolution bei den Öffnungszeiten erwartet der HDE ohnehin nicht. „Das rechnet sich kaum“, sagt Pellengahr. Allerdings dürfte es mehr Sonderaktionen wie offene Einkaufsnächte geben. Auch zu Weihnachten würden die Händler wahrscheinlich länger öffnen. Auch ein Comeback des „Schlado“ kann sich Pellengahr vorstellen: „So etwas empfiehlt sich durchaus als Modell.“ Nur dass der Geschäftsschluss dann nicht mehr um 20.30 Uhr sondern womöglich weit nach Mitternacht liegt.