SPORTPLATZ
: Von Weihnachtssingen bis 11. September

KICKEN Ein neues Standardwerk erzählt die Geschichte des 1. FC Union Berlin – bis ins kleinste Detail. Klar wird unter anderem: Ein Hort der DDR-Opposition war der Klub dann auch wieder nicht

Stasi und Polizei führten einen Teil der Union-Fans als „negativen Fußballanhang“

Dieser Wälzer war mehr als überfällig. Fast 450 Seiten lang ist die Vereinschronik des 1. FC Union Berlin, die der Sportautor und Journalist Matthias Koch jetzt vorgelegt hat. „Immer weiter, ganz nach vorn“ erzählt die Geschichte des Vereins, der vielen als der nächste Erstligist an der Spree gilt, der dank seiner vitalen Fan- und Vereinskultur Fans in ganz Europa hat und dem immer noch der Mythos der Dissidenz anhaftet. Das Buch verdeutlicht, wie eng die Geschichte des Klubs, der seit 1966 unter dem jetzigen Namen spielt, mit der Geschichte der geteilten Stadt und des geteilten Landes verwoben ist.

Koch beginnt seine Berliner Fußball-Zeitreise Ende des 19. Jahrhunderts mit den Kickern von Union Oberschöneweide, die als früheste Vorfahren der Eisernen gelten dürfen, und schlägt den Bogen dann bis ins Jahr 2013. Zwischen den Kapiteln gibt es „Einwürfe“, in denen bestimmte Themen vertieft werden, Porträts „Großer Unioner“ und Interviews mit Zeitzeugen, meist ehemalige Spieler, Manager oder Trainer.

Zu den lesenswertesten Teilen des Buches gehört jener, der sich mit den Jahren bis 1989 auseinandersetzt. Zu DDR-Zeiten war Union der einzige zivile Berliner Verein im Leistungsfußball, während der BFC Dynamo der Stasi nahe stand und Vorwärts Berlin, das dritte Team, ein Armeesportverein war.

Obwohl die Köpenicker unter den DDR-Oppositionellen am beliebtesten waren, wäre es verfehlt, den Verein zum Hort der Widerständigen zu erklären, wie Kochs Vereinschronik nahelegt. Allerdings wurde Union immer wieder – und wenig überraschend – vom Deutschen Fußball-Verband (DFV, dem DDR-Verband) benachteiligt. Wichtige Spieler wie Jimmy Hoge oder Klaus Korn wurden Anfang der Siebziger wegen Disziplinlosigkeiten gesperrt. Korn hat einen BFC-Spieler während des Spiels das Wort „Stasischwein“ zugeraunt, dafür wurde er ein Jahr aus dem Verkehr gezogen.

Es sind diese Anekdoten, die den Umgang mit Union zu DDR-Zeiten nachvollziehbar machen. Union, der Underdog, der es mit den sogenannten Unparteiischen im DFV schwerhat und der einige seiner besten Spieler an den Vorzeigeklub des Staates, den BFC, abtreten muss (wenn man Karriere auf nationaler Ebene machen wollte, spielte man ohnehin besser bei Dynamo).

Auch in seinen „Einwürfen“ thematisiert Koch die Beziehungen des Klubs zum DDR-Staat. Interessant zu lesen ist, wie Stasi und Polizei einen Teil der Union-Fans als „negativen Fußballanhang“ in den Akten führten, überwachten und verfolgten. Spätestens seitdem einige aus dieser Gruppe bei Ausschreitungen auf dem Alexanderplatz 1977 sowie bei Spielen gegen den BFC Dynamo mit der Polizei aneinandergeraten waren, standen sie unter ständiger Beobachtung. In diesem Zusammenhang mutmaßt Koch: „Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit muss es auch im Verein und in der Mannschaft bis zur Wende mehrere inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit gegeben haben.“ Das hätte man sicher auch belegen können – zwingend ist es nicht.

Unter den „Einwürfen“ sind weitere lesenswerte Texte, und die abseitigen Geschichten sind dabei die besten. Etwa, wie mit Peter Gribat jemand (für 800 Ostmark) das Vereinslogo entwirft, der mit dem Klub eigentlich gar nicht so viel anfangen kann. Oder wie Union sich 1968 erstmals für den Europapokal qualifiziert, aber der Prager Frühling den Wettbewerb zunächst platzen lässt. Das zweite Mal gelingt Union die Qualifikation im Jahr 2001 – prompt kommt der 11. September dazwischen.

Koch schildert weiter die sportwirtschaftlich chaotische Nachwendezeit und verfolgt die Ereignisse bei Union bis ins kleinste Detail: das sportliche Geschehen, die Personalfragen vom Spieler auf der Ersatzbank bis zum Präsidenten, die ökonomische Situation. In dieser Hinsicht ist das Werk extrem gut recherchiert und wirkt vollständig. Allerdings sollte man dem Verein nicht gänzlich leidenschaftslos gegenüberstehen, will man sich durch diese gesammelten Annalen wühlen.

Beim Thema Vereinskultur – Stichworte: Verhältnis zu Hertha, Stadionbau der Fans, Weihnachtssingen – hätte man sich mehr zurückgelehnte, erzählende Texte gewünscht. Andere Themen werden zu kurz abgehandelt, etwa der Frauenfußball, das Doping zu DDR-Zeiten oder die Diskussion im Jahr 2011, als bekannt geworden war, dass der aktuelle Präsident Dirk Zingler in einem Stasi-Wachregiment gedient hatte. Dennoch: Allen, die der Klubgeschichte der Eisernen auch nur ein bisschen abgewinnen können, sei dieses Buch unbedingt empfohlen. JENS UTHOFF

■ Matthias Koch: „Immer weiter, ganz nach vorn. Die Geschichte des 1. FC Union Berlin“. Werkstatt Verlag, 448 Seiten, 24,90 Euro