Protest gegen Internetzensur und „Diebe“ in der Regierung

TÜRKEI Regierungschef Erdogan bleibt hart. Mit dieser Position reist er am Dienstag nach Brüssel

Ein Staatsanwalt, der Erdogans Sohn vorladen wollte, musste seinen Posten räumen

ISTANBUL taz | Es erinnerte an Szenen aus dem vergangenen Sommer: flüchtende Demonstranten, Wasserwerfer und Tränengasschwaden, die durch die Straßen zogen. Anlass waren landesweite Demonstrationen gegen eine verschärfte Internetzensur, die die Regierung in diesen Tagen im Parlament verabschieden lassen will. Danach sollen missliebige Seiten gesperrt werden können – ohne richterlichen Beschluss auf Anordnung der staatlichen Telekommunikationsbehörde.

In Istanbul sammelten sich in den frühen Abendstunden einige tausend Leute auf dem zentralen Taksimplatz und der angrenzenden Istiklal-Fußgängerzone. Da in der gesamten Innenstadt seit den Gezi-Protesten Demonstrationsverbot herrscht, ließ die Polizei auf dem Taksimplatz von Beginn an keine Versammlung zu, sondern drängte die Leute in die mit Passanten gut gefüllte Einkaufsmeile.

Als sich dann doch eine Demonstration formierte, Plakate gegen die Internetzensur hochgehalten wurden und die Regierung in Anspielung auf die laufende Korruptionsaffäre lautstark als „Diebe“ tituliert wurde, griff die Polizei ein. In Istanbul wurden 12 Leute festgenommen, aus anderen Städten lagen zunächst keine Zahlen vor.

Die Demonstrationen, zu denen auch Bündnisse aus der Gezi-Bewegung aufgerufen hatten, waren das erste größere Comeback der linken demokratischen Opposition, die sich die Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und der islamistischen Gülen-Bewegung bislang von Außen angeschaut hatte.

Mit einer weiteren Entlassungswelle in der Justiz, aber jetzt auch bei der Bankenaufsicht und dem staatlichen Fernsehsender TRT, versucht die Regierung von Recep Tayyip Erdogan immer noch, die Auswirkungen der Korruptionsaffäre, die am 17. Dezember durch die Verhaftung von 50 Leuten aus dem Umfeld der Regierung begonnen hatte, einzudämmen. Vor wenigen Tagen mussten auch 20 leitende Staatsanwälte ihren Posten räumen. Unter ihnen ist auch Muammar Akkas, der vergeblich versucht hatte, unter anderem den Sohn von Erdogan, Bilal Erdogan, vorzuladen.

Darüber hinaus bereitet die Regierung eine Gesetzesänderung vor, mit der die Befugnisse des „Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte“, der bislang über die Besetzungen von Stellen in der Justiz entscheidet, so verändert werden sollen, dass letztlich immer der Justizminister das letzte Wort hat. Gegen diese Gesetzesänderung, die Entrüstung ausgelöst hatte, weil damit auch der letzte Anschein einer unabhängigen Justiz verloren gehen würde, will Staatspräsident Abdullah Gül nun wahrscheinlich ein Veto einlegen.

Erdogan lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass er die Korruptionsermittlungen für einen „Putsch“ der von der Gülen-Bewegung unterwanderten Justiz hält, gegen den er mit allen Mitteln vorgehen will. Dieser von außen gelenkte Putsch – Fetullah Gülen, das Oberhaupt der Bewegung, lebt in den USA – sei ein Anschlag auf ihn persönlich und die Türkei, wie er auf einer Konferenz aller türkischen Botschafter verkündete.

Mit dieser Position reist Erdogan am Dienstag erstmals nach fünf Jahren wieder nach Brüssel zu Konsultationen mit den Spitzen der wichtigsten EU-Institutionen. Er trifft dort Kommissionspräsident Manuel Barroso, Parlamentspräsident Schulz und den Vorsitzenden der Ratspräsidentschaft Herman Van Rompuy. Schon im Vorfeld hat Erdogan angekündigt, seine Position offensiv zu vertreten und sich jede Kritik aus der EU verbeten.

JÜRGEN GOTTSCHLICH