Zurück auf der Straße

Was bleibt Berlin von der Fußball-WM? Eine Menge. Menschen machen sich selbstverständlich wie nie den öffentlichen Raum zu Eigen, das Miteinander der Kulturen hat sich entkrampft, der Ausnahmezustand hat die Stadt gestärkt. Ein Essay

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Dass Melancholia, die Mutter aller schwermütigen Zustände, bereits vor dem Ende der Fußballweltmeisterschaft in Berlin ihre Wirkung spüren ließ, bedeutete einen Fingerzeig. Nachdem die Italiener die deutsche Mannschaft im Halbfinale mit 2:0 besiegten, versank die halbe Stadt in Verzweiflung, und dies war nur ein Vorspiel auf den sich einstellenden Kater nach dem fünf Wochen langen Rausch.

Wenn ab heute die große Fußballparty vorbei ist, wenn die Fahnen aller Nationen eingerollt, die Millionen Besucher – unsere Gäste, Freunde und Gegner –, die Helden und Stars abgezogen sind sowie das so lange in Schwarzrotgold getauchte Berlin wieder sich selbst genügen soll, wird sich das berüchtigte Loch, in das man nach euphorischen Zuständen stürzt, noch einmal auftun. Der Schädel brummt, ein bisschen Depression wird bleiben. Wir sind wieder in der Wirklichkeit angekommen. Aber bleibt nur Traurigkeit?

Luftige Argumente

Wohl kaum. Sicher ist, dass die politischen Trittbrettfahrten der WM, die da wären Olympia 2020, neuer Patriotismus und wirtschaftlicher Aufschwung, schnell verdampfen werden. Zu viel Luft sozusagen und zu wenig Gehalt hatten die Argumente. Was bleibt ist etwas anderes: nämlich die Renaissance des öffentlichen Raums sowie seiner Akteure und die der metropolitanen Internationalität Berlins.

Zwar werden Ausnahmezustände wie die WM niemals die Regel. Aber sie hinterlassen Spuren. Als die Fußballweltmeisterschaft in Berlin begann, haben nur wenige geglaubt, dass die Stadt einen speziellen Geist, einen Berlin Spirit aus Party und Begeisterung, aus Wahnsinn und Besinnlichkeit für das Fußballfest entwickeln könnte. Man baute eine Fanmeile am Brandenburger Tor, zimmerte ein halbes Dutzend Arenen mit Tribünen vor Riesenleinwänden zusammen, machte diese ebenso wie Freiluftkinos zu Public Viewings, drapierte die Stadt mit Fahnen, und Fußball-Reklame. Ein Klaus Wowereit rührte noch kräftig die Werbetrommel. Das war’s.

Würde man, als das WM-Fest begann, einen Fußball-Stadtplan Berlins mit Farbe anlegen, er ergäbe ein Abbild aus wenigen Straßen, Plätzen und Räumen. Die Fans, der Fußball und die Medien bevölkerten die Straße Unter den Linden, den Kurfürstendamm oder den Potsdamer Platz. Wenige Viertel würden grell in bunter Farbe aufflackern, andere dagegen quasi als Fußball-Terra-Incognita im Dunkeln versinken. Als die Klinsmann-Elf am 9. Juni 2006 in München das Auftaktspiel gegen Costa Rica bestritt, bevölkerten die große Fanmeile Hunderttausende. An der Peripherie der Stadt, in Pankow, im Südwesten und in Spandau oder in den bürgerlichen Kiezen dagegen herrschte – außer in den Kneipen – Stille.

Dann kamen der Sommer, die Spiele und das lustvolle Gefühl nach Verwandlung. Aus Grau wurde so ein schwärmerisches Schwarzrotgold. Nicht Heyes Warnung vor Nazi-Übergriffen wurde Wirklichkeit, sondern ein internationales Fest. Und Berlin öffnete exhibitionistisch seine Türen. Drinnen wurde draußen. Alle zeigten sich. Anything goes!

Von „Google-Earth“ aus im Zeitraffer betrachtet, füllten sich nach dem WM-Auftakt die Straßen der Stadt. Immer mehr WM-Terras-Incognitas wandelten sich zu Fußballbühnen voller Menschenmassen. Berlin war erste Stadt im WM-Welttheater. Die WM habe der Stadt einen Schub versetzt, analysierte Matthias Heine in der FAS. Es würden auf einmal „Phänomene sichtbar, die es schon länger gibt, die aber nicht so auffällig waren“. Dazu gehörte, das Private nach draußen zu verlagern. Mit der WM sei eine so genannte „Wohnzimmerisierung“ des öffentlichen Raums entstanden. Berlin, sein öffentlicher Raum und seine Nutzer spielten südländische Fiesta. So sei es kein Wunder, dass die semiöffentlichen Räume des Kommerzes – bis auf das Sony-Center – weniger genutzt blieben.

Man kann so weit gehen wie Mattias Heine und sogar behaupten, dass die ungehemmte Aneignung der Straße ein altes linkes Motto, nämlich „Reclaim the Streets“, wiederbelebte hätte. Richtig ist, dass die halbe Stadt, ihre Wohnhäuser und Höfe, Gehsteige und Gärten zur Kneipe, zum Biergarten, Freiluftkino, zur Arena, Fanmeile, einem TV-Grillplatz und Corso in Deutsch, Brasilianisch, Angolanisch oder Japanisch wurden. Eine viel nachhaltigere Erkenntnis der WM für Berlin aber ist, dass die Besetzung der Straße und des öffentlichen Raums über die ideologische Komponente hinausging. Es heißt ja, Stadtluft macht frei, unabhängig, selbstbewusst. Wurden die Straßen, Plätze und Parks nicht genau so erobert? Und – wurde nicht weniger Autoverkehr in der Stadt registriert?

Lust am Spiel

Das Laissez-faire bei der Nutzung der Straße durch die Öffentlichkeit ist ein metropolitanes, bürgerliches Merkmal. Einem Ordnungstakt wie in piefigen Kleinstädten, wo man noch „Ruhe“ brüllt, wenn nach 22 Uhr gefeiert wird, und die Polizei holt, wenn der Nachbar Musik macht, gehorchte man hier in Berlin nicht mehr. Es war schon wunderbar zu beobachten, wie die Fanmeile, ganze Straßenzüge in Kiezen und selbst die Gärten und Höfe sich zu Volks-Bühnen des Fußballs verwandelten. Die Lust am Spiel, am Zusammen- und Draußensein, an Kommunikation und Emotion war bestimmend. Es herrschte ein Commonsense des öffentlichen Raums.

Natürlich war Berlin schon immer professioneller im lässigeren Umgang mit Ausnahmezuständen. Die Stadt ist liberal, Berlin ist Hauptstadt, es beherbergt Bürger, viele ausländischer Herkunft, hat Kultur, eine Szene, ist intellektuell und hat eine Geschichte. Berlin ist grob und hat Charme zugleich. Und die Stadt hat Erfahrung mit Ausnahmezuständen, sei es wie bei der Blockade, dem Mauerbau, dem Mauerfall oder bei der Love Parade und anderen Großchiffren der Festivalisierung. Berlin verdaut dies und stärkt sich dadurch.

Was zudem nach der WM bleibt, sind neue Identitäten mit der Stadt. Berlin hat diese nicht nur von außen, sondern auch aus sich selbst heraus erbracht. In Berlin, das in Teilen noch gespalten ist und wo man soziale oder religiöse Parallelgesellschaften ausmacht, hat der Fußball dies entkrampft. Nicht ein nationales, sondern internationales, multikulturelles Klima und Image hat sich konstituiert. War die Fanmeile – wie bei Kirchentagen die Messe – Treffpunkt für Berliner und Berlinbesucher, für Austausch und Verwandlung, so waren die Kieze auf ihre Art dasselbe. Hier flatterten deutsche neben türkischen Fahnen, Regenbogenflaggen neben mexikanischen. Der Ball war rund in Berlin, jeder ein Trainer aller 32 Mannschaften. Natürlich gab es Gegner. Aber es war niemals ernst. Die Stadt und ihre Bürger hatten sich geschmückt zum Fest und benahmen sich auch wie Gastgeber – nicht posemuckel-berlinisch, sondern mit Understatement und solidarisch mit den Verlierern.

Und sonst? Vielleicht gehört es zu den Besonderheiten einer wirklichen Stadt, die sich, den Fußball und ihre Besucher feiert, dass sie Raum lässt für andere und anderes. Die Pression des Fußballs? Ein Witz! Eher die Pression der Fußballwerbung und des Sportgeschäfts!

Wer Fußball hasst, wer sich dem fünfwöchigen Wahn entziehen wollte, konnte das tun. In den Tagen der Fußballweltmeisterschaft etwa waren die Opernhäuser und Theater so gut besucht, wie zu Nicht-WM-Zeiten. Die Energie der WM blieb wirkungslos gegenüber cineastisch dominierten Kinobesuchern. Die Magie eines Zidane oder Ballack übte nur begrenzten Zauber aus. Am Spielfeldrand oder in fußballfreien Arealen mangelte es an ihrer Kraft.

Heute, am „The day after WM“, fühlt wohl jeder etwas Trauer über das Ende der Weltmeisterschaft. Selbst Fußballgegner haben Amputationsschmerzen, ist ihnen doch ein Hassobjekt abhanden gekommen. Dennoch: Droht Berlin wieder so normal wie vor der WM zu werden? Was tun ohne Riesenleinwände, ohne öffentliche Sessions, ohne ein Mehr an Internationalität? Allein die Frage ist schon Antwort genug, dass es anders geworden ist.