AMERICAN PIE
: Die Hoffnung auf dem Brett

OLYMPIA Nach dem Ausfall von Lindsay Vonn ist in den USA die Rolle des Hinguckers für Snowboarder Shaun White reserviert

775 Millionen Dollar hat NBC für Übertragungsrechte der Spiele in Sotschi gezahlt

Man darf sich vorstellen, wie Schnappatmung im Rockefeller Center einsetzte. Dort, wo in New York die Zentrale der National Broadcasting Company (NBC) residiert und man vergangene Woche mit ansehen musste, wie ihr Hoffnungsträger abhob, sich hoch in der Luft drehte, ein, zwei, drei Mal, und schließlich krachend auf der Piste aufschlug. Als Shaun White regungslos im Schnee von Mammoth Mountain liegen blieb, schien es einige, scheinbar ewig währende Sekunden so, als würde den Verantwortlichen des Fernsehsenders die nächste Heldensaga wegbrechen.

Doch dann richtete sich White auf und rutschte, gestützt auf Helfer, ins Tal. Der wohl beste Snowboarder des Planeten war unverletzt geblieben. „Ich hab nach dem Sturz ein bisschen was gegessen und ein Medikament genommen“, berichtete er, nachdem er sich nur wenige Stunden später erneut in den Slopestyle-Parcours gestürzt und für die Olympischen Spiele in Sotschi qualifiziert hatte. Zum Glück für NBC. Denn der 27-jährige White ist dazu auserkoren, die Lücke zu füllen, die die Absage von Lindsey Vonn hinterlassen hat. Seit klar ist, dass die Skirennläuferin in Russland nicht auf Medaillenjagd gehen kann, muss sich der Sender Fragen gefallen lassen, wie er denkt, die Einschaltquoten erreichen zu können, die nötig sind, um die 775 Millionen Dollar für die Übertragungsrechte refinanzieren zu können – ohne einen mainstreamkompatiblen Star wie Vonn.

Natürlich sei man enttäuscht, sagte Mark Lazarus, Chef von NBC Sports, die mehr als 1.500 Stunden aus Sotschi senden werden, aber vor allem fühle man mit Vonn: „Wir werden die Werbung für die Spiele etwas ändern müssen“, gab Lazarus zu, „und wir werden nach der nächsten Story suchen.“ Die nächstgrößere Story ist – auch mangels amerikanischer Gold-Favoriten im besonders beliebten Eiskunstlauf – nun der Star eines einstigen Trend- und Nischensports.

Shaun White besitzt zwar lange nicht die mediale Strahlkraft von Vonn, die nach olympischen Siegen – so die unausgesprochene Hoffnung des Senders – wohl zusammen mit ihrem Freund, einem gewissen Tiger Woods, gejubelt hätte – oder sich nach Niederlagen fernsehgerecht vom weltbesten Golfer hätte trösten lassen können. Aber für einen Snowboarder hat es White bereits zu erstaunlicher Berühmtheit gebracht.

White war sieben Jahre alt, als seine Eltern den ersten Sponsorenvertrag für ihn abschlossen. Zwei Jahrzehnte später werden Snowboards, Mode und ein Computerspiel unter seinem Namen vertrieben. White tritt in Filmen auf, ist eingeladen in Talk-Shows und wohnt in einer neun Millionen Dollar teuren Villa in Malibu mit Blick auf den Pazifik und Filmstars in der Nachbarschaft. Ob auf dem Skate- oder dem Snowboard hat White alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Er ist der einzige, der bei den X-Games, dem Olympia der Extremsportler, sowohl im Sommer als auch im Winter Gold geholt hat, insgesamt 15 Mal.

Bei den echten Olympischen Spielen ist White sogar noch ungeschlagen. Sowohl 2006 in Turin, als auch 2010 in Vancouver siegte er in der Halfpipe. In Sotschi hat er nun die Möglichkeit, diese Ausbeute zu verdoppeln, denn White wird zusätzlich auch im Slopestyle starten, einer Art Freestyle-Wettbewerb in einem Hindernisparcours mit Sprüngen, der erstmals olympisch ist.

Ob White aber die Aufgaben erfüllen kann, die ihm NBC zugedacht hat, bleibt abzuwarten. Zwar hat er sich in den vergangenen Jahren Mühe gegeben, sein Image als braves Wunderkind der sonst eher flippigen Boarder-Szene abzulegen, spielt nun Gitarre in einer Rockband namens Bad Things und wurde im September 2012 verhaftet, weil er betrunken randalierte. Aber vom Glamour einer Lindsey Vonn ist der rotgelockte White noch weit entfernt.

Zudem er nicht einmal als uneingeschränkter Favorit zu den Spielen fährt. Die nationale und internationale Konkurrenz hat in den vergangenen Jahren aufgeholt, White selbst das Training bisweilen schleifen lassen. Selbst die Qualifikation im eigenen Lager war kein Selbstläufer. Nun aber, da sie gelungen ist, soll White, wenn es nach NBC geht, der Held von Sotschi werden.

THOMAS WINKLER