Casting bei Carrell

Er muss gespürt haben, dass uns die Kulisse nervös macht. Ein Hotel am Hamburger Hauptbahnhof, einschüchternde Freitreppe, livriertes Personal, in der Empfangshalle schwere Teppiche – und mittendrin wir, eingeladen von Radio Bremen, zehn Leute, fünf Mütter und Väter, an ihren Seiten ihre halbwüchsigen Kinder. Hier tagt, im Mai des Jahres 1975, eine Bewerbungsrunde. Heute sagt man dazu: Casting.

Anstehen, um in die Show zu kommen. In seine Show, die von Rudi Carrell. Lustige Spiele für bunte Abende. Im Ersten. Millionen gucken zu, Klassenkameraden, Lehrer, Freunde – also alle. Wir Halbwüchsigen wussten: Das kann peinlich werden. Plötzlich öffnet sich eine Nebentür – und Rudi Carrell steht mitten unter uns. Sagt: „Ihr seid schrecklich nervös? … Ich auch.“ Um ihn herum wieselt ein kleiner Mann, den man später als Alfred Biolek kennen wird, der Meister der Zeremonie. Wirkt flüchtig, routiniert. Fragt beim Einzelinterview, ob man Angst vor Kameras hätte und weshalb man überhaupt mitmachen wolle.

Rudi Carrell hatte uns locker gemacht. Neckte ein Mädchen („Toller Afghanenpelz. Gibt’s auch einen Hut dazu?“ – „Nö.“), scherzte mit einem Jungen ( „Akne ist nicht schlimm, hatte ich auch“ – „Wirklich?“) und nahm eine Mutter auf den Arm: „Sie denken bestimmt an die Waschmaschine, die Sie in der Show gewinnen können. Kann ich verstehen. Meine ist auch gerade kaputt.“ – „Echt?“

Alle Furcht vor diesem Hotel verfliegt, als Carrell die Runde anflachst: „Bisschen düster, hmmh? Bei Ihnen zu Hause ist es bestimmt nicht so plüschig. Wir sind hier ja nicht für immer.“ Dann wird getestet. Gefragt, was man am Fernsehen mag – und wen. Einer sagt „Uschi Nerke“ – und Carrell entfährt ein „Flotte Biene“. Ein Mann sagt „Vico Torriani“ – und der Meister schweigt, nippt am Kaffee und steckt sich die ungefähr elfte Zigarette in gefühlten zwei Stunden an.

Wir fünf Heranwachsenden fanden ihn am Ende ziemlich cool. Kein alter Sack, eher wie ein zufälliger Kneipenbesucher, den es in ein Hotel verschlagen hat. Alfred Biolek teilt schließlich fünf Paaren mit, dass alle „klasse“ waren, aber für ein Paar habe man sich eben entscheiden müssen, „vielen Dank, auf Wiedersehen“. Enttäuschung auf sieben Gesichtern, ein Mädchen ist froh, „ich hätte sowieso anziehen müssen, was meine Mutter will“ – ehe Rudi Carrell noch hinzukommt und sagt: „Ihr wart wunderbar“, knapp die Hände schüttelt und durch die Nebentür entschwindet. Freitreppen waren offenkundig nicht sein Ding. JAF