Witternde Haltung

ZWISCHEN GESTALT UND NICHTGESTALT Die Künstlerin Claude Horstmann sucht nach der Autonomie der Formen – in der Sprache wie im visuellen Material. Sie wird fündig, wo das normale Auge nichts erkennt. Jetzt stellt sie in der Kreuzberger Galerie Laura Mars Grp. aus

Hat Horstmann in Paris die Playlist gefunden, die die Sängerin an die Reihenfolge der Stücke erinnert?

Claude Horstmann findet Formen, die andere gar nicht sehen. Formen, die wir gar nicht als Form erkennen, weil sie zu unkonkret sind. Formale Zusammenhänge, die wir so nicht herstellen können, weil der Kontext dazu fehlt. Das können allzu vage Umrisse sein, wie ein Loch in einer Wand oder auch ungewohnte Konturen architektonischer Räume. Manchmal entdeckt die Künstlerin Formen aus ihren Zeichnungen plötzlich in Alltagsorten wieder.

„Ich lebe eine Zeit des Jahres in Marseille“, sagt Horstmann, die 1960 geboren wurde, in Osnabrück Kunstwissenschaften studierte und danach in Stuttgart Bildhauerei bei Inge Mahn und Joseph Kosuth. Zwischen der baden-württembergischen Landeshauptstadt und dem südfranzösischen Schmelztiegel am Mittelmeer pendelt sie. „Dieser Ort inspiriert mich extrem. Dort gibt es sehr viele offene Zustände.“ Das versteht sie sowohl sozial als auch räumlich. In Zeitungen und Zeitschriften findet sie Bilder oder fotografiert selbst in Marseille, immer auf der Suche nach interessanten Raumsituationen, mit denen sie sich dann sozusagen „kurzschließen“ kann. „Über die Fotos lege ich eine transparente Folie, auf der ich dann zeichne. Was genau ich zeichne, was ich aus diesen Fotos herauslöse, hat dann aber fast kein System. Ich klebe nicht an den realen Objekten. Was ich im Prozess dieser Übertragung letztendlich freisetze, wird dann auf eine eigentümliche Weise abstrakt und sogar autonom.“

Diese Autonomie der Zeichen entdeckt sie nicht nur im Raum der visuellen Formen, sondern auch in der Sprache. In der Ausstellung, die Horstmann zurzeit in der Kreuzberger Galerie Laura Mars Grp. zeigt, präsentiert die Künstlerin neben Zeichnungen und Fotografien auch Siebdrucke mit den Inschriften kleiner, zufällig gefundener Zettel. Etwa eine Liste, die zwischen freier Assoziationsreihe, Lyrik und konkreter Poesie changiert. Bei Horstmanns Recherche, was es mit dem Text auf sich hat, ergab sich dann, dass es sich bei den Zeilen um Songtitel der inzwischen aufgelösten englischen Girls-Band Electrelane handelt. Steht auf dem Zettel eine ganz private Aufzählung von Lieblingsliedern eines Fans? Oder hat Horstmann in Paris genau die Playlist gefunden, die die Sängerin an die Reihenfolge der im Konzert zu spielenden Stücke erinnert? Dafür würde der Strich sprechen, der zwischen den Songs „Long Dark“ und „Film Music“ die kurze Pause vor der Zugabe markiert.

Doch der Kontext ist verschwunden und lässt sich nur im Nachhinein mit detektivischer Mühe reimaginieren. Horstmann kommt es bei solchen Fundstücken auf etwas anderes an. „Mich interessiert es eher grafisch, mich interessiert das, was diese Zettel als Sprache freisetzen. Ich lese also nicht jeden Einkaufszettel auf, es sei denn, es ergibt sich darauf eine poetische Zusammenstellung der Wörter. Es muss etwas sehr Spezifisches sein, das auch den Anspruch hat, die Signifikanzen, mit denen die Sprache behaftet ist, ins Spiel zu bringen.“ Die medial ganz verschiedenen Werke passt Horstmann in situ auf die unterschiedlichen Begebenheiten des Ortes an, sie macht Bedeutungsräume auf, die losgelöst von ihren ursprünglichen Kontexten ganz neue, subjektive Zusammenhänge evozieren.

Mit ihrer witternden Haltung zwischen Gestalt und Nichtgestalt, Raum und Unraum, Benennung und Bedeutungslosigkeit belebt Horstmann Prinzipien der Formlosigkeit der informellen Kunst der 1940er und 1950er Jahre wieder. Sie beschwört die Autonomie von Formen, die eigentlich keine sind und erst in ihrer subjektiven Benennung für uns Betrachter erkennbar werden. MARCUS WOELLER

■ Bis 7. August, Laura Mars Grp., Sorauer Straße 3, Kreuzberg