: „Das ist kein Hokuspokus“
ALTE SCHULE Traditionelle Chinesische Medizin ist eine gute Ergänzung zur Schulmedizin, sagt der Arzt Ralph-Peter Schink. Er muss es wissen, denn er hat beides studiert
61, lebt und arbeitet in Hamburg und war von 1987 bis 2000 Ausbildungsleiter in der Societas Medicinae Sinensis e.V. Nach seiner Promotion in Medizin ist er 1979 für zwei Jahre nach China gereist, um sich in der TCM ausbilden zu lassen.
INTERVIEW AMADEUS ULRICH
taz: Herr Schink, warum haben Sie sich vor 30 Jahren für die traditionelle chinesische Medizin (TCM) entschieden?
Ralph-Peter Schink: Sie ist die älteste Medizin weltweit und hat sich bis heute bewährt. Ich habe mich schon früh für sie interessiert. Da sie in China in den Kaiserhof integriert war, wurde sie seit dem dritten Jahrhundert kontinuierlich schriftlich festgehalten. Nach dem Medizin-Studium und einer Ausbildung zum Allgemeinmediziner bin ich Ende der 70er nach China gereist, um mich dort mit der TCM zu beschäftigen. Akupunktur war im Westen bereits bekannt. Doch die authentische chinesische Medizin, die auf 2.000 Jahre alten Quellen beruht – die gab es bei uns nicht.
Im Westen assoziiert man mit der TCM immer noch meist Akupunktur.
Stimmt. Ich habe mich aber auf die Phytotherapie, also die Kräuterheilkunde spezialisiert: diese macht 70 Prozent der chinesischen Medizin aus.
Wissenschaftler zweifeln die Wirksamkeit der TCM allerdings an.
Zu Unrecht. Die uns geläufige Schulmedizin ist evidenzbasiert und beruht auf statistischen Auswertungen. Ein Medikament wird getestet, und auf Grundlage eines Ergebnisses gilt es als wirksam – trotz Nebenwirkungen. Zur Wissenschaft gehört aber die Erfahrung. Die Behauptung, nur die Schulmedizin sei wissenschaftlich, ist falsch.
Warum können Sie behaupten, dass TCM wirkt?
Weil ich in den letzten 30 Jahren etwa 20.000 Patienten behandelt und die Wirkungen gesehen habe. Das ist kein Hokuspokus. Patienten kommen zu mir mit Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Unruhe. Die Schulmedizin kann ihnen nicht helfen. Sie lassen sich durchchecken, die Geräte finden nichts, die Symptome bleiben. Der Mensch ist nun mal kein Auto, das man zum TÜV bringt, sondern ein komplexes biologisches System.
Was hat das mit „Yin und Yang“ zu tun?
Die Begriffe Yin und Yang deuten darauf hin, dass biologische Systeme wie der Mensch in zwei Pole unterteilt sind. Das sieht man in der Natur: Tag und Nacht, Sonne und Planeten, Kleines und Großes. Ein Patient kann Kälte- oder Hitzegefühle, unten oder oben Beschwerden haben. Yang ist außen, extrovertiert, während Yin immer innen ist, introvertiert. Yin ist stofflich, während Yang energetisch aktiv ist. Dieses Yin und Yang des Körpers, der nicht aus Organen, sondern Funktionskreisen besteht, muss im Gleichgewicht sein.
Welche Rolle spielt das Qi?
Das ist Lebensenergie, die in unserem Körper kursiert; wenn sie blockiert ist, haben wir Beschwerden. Es gibt etwa 35 verschiedene Qis. Sie befinden sich im Yang-Bereich, sind aber nicht messbar; deswegen akzeptiert die Schulmedizin sie nicht. Dabei kann jeder Mensch diesen Energiestrom spüren, etwa durch einen Nadelstich an der richtigen Stelle. Dem Qi ist ebenfalls ein Pol gegenüber gesetzt, das Xue, was Blut bedeutet. Xue ist stofflich, es ist körperliche Energie.
Wie kann man denn an seinem Qi arbeiten?
Sie können zum Beispiel Qigong machen. Sie nehmen eine bestimmte Körperposition ein und probieren, sich imaginativ etwas vorzustellen. Dann stehen Sie zum Beispiel auf der Erde und stellen sich vor, Ihre Arme seien Zweige, die im Winde wiegen. Dann spüren Sie, wie die Energien durch Ihren Körper fließen.
Wie reagieren Ihre Patienten?
Sie fühlen sich nach dem Qigong sehr ausgeglichen. Gerade Patienten, die hektisch aus dem Job zu mir stürzen. Sie merken, da fängt etwas an zu zirkulieren. Später haben sie eine größere Grundenergie, fühlen sich fitter.
Welche Varianten der Qi-Aktivierung gibt es noch?
Die fast 10.000 Jahre alte Akupunktur. In unserem Körper existieren sogenannte Meridiane, obwohl es besser ist, von Leitbahnen zu sprechen. Stellen Sie sich das als eine Aneinanderreihung von 350 Punkten im biologischen System vor, die ein bestimmtes Energiepotenzial haben. Es ist wie ein U-Bahn-Netz. Die Stationen, wo die Energie zugänglich ist, wo man quasi „einsteigt“ – das sind die Akupunkturpunkte. So kann man das Qi regulieren. Wie einen Zug, den man anhält, anschiebt, umleitet.
Welche Behandlungsverfahren gibt es noch?
Pflanzenheilkunde, chinesische Ernährungstherapie und Tui-Na-Massage.
Ernährungstherapie?
Jedes Nahrungsmittel hat ein Energiepotenzial. Man kann Lebensmittel einordnen, ob sie zum Beispiel Qi bewegen oder auf einen Funktionskreis wirken. Wer eine Bronchitis hat, sollte Birnen essen, denn sie kühlen den Lungenfunktionskreis und lösen Schleim.
Was sind typische chinesische Heilpflanzen?
Ingwer, Zimt und Pfingstrosen. Die Phytotherapie besteht größtenteils aus Wurzeln, Blüten, Ästen, Knospen und Samen. Es gibt eine weiße, eine rote Pfingstrose und die Rinde. Den Ingwer gibt es frisch in Scheiben, getrocknet oder geröstet. Der Zustand bedingt die Wirkung. Der frische wirkt an der Oberfläche, bei Erkältungen. Der getrocknete wirkt tiefer, bei Lungenerkrankungen. Der geröstete ist sehr warm, den setze ich bei Kälteerkrankungen ein.
Und die Pfingstrose?
■ Rund 1.000 TCM-Ärzte praktizieren in Deutschland.
■ Zur Verbreitung der TCM in Deutschland beigetragen hat Ende der 70er-Jahre vor allem der Sinologe Manfred Porkert, der Dutzende chinesische Quellen zur chinesischen Medizin übersetzt hat.
■ Zwei große TCM-Ärztegesellschaften gibt es in Deutschland: Die Deutsche Ärztegesellschaft für Akupunktur (Dägfa) und die Societas Medicinae Sinensis (SMS).
■ Einen TCM-Arzt finden kann man unter www.daegfa.de und www.tcm.edu. AMA
Sie ist ein wichtiges Mittel, wenn es um Emotionen geht. Jede Diagnostik hat bei uns eine emotionale Ebene, wir behandeln in der TCM vermehrt psychische Symptome. Die weiße Pfingstrose hilft gegen Stress und Depressionen. Ich verwende sie dauernd, weil sie entspannend wirkt. Jeder vierte meiner Patienten hat Burnout.
Gibt es Momente, wo die TCM an ihre Grenzen stößt?
Natürlich. Ich will hier keine Fronten aufziehen. Die Schulmedizin hat ihre Verdienste, besonders im akut lebenserhaltenden Bereich. Einen Michael Schumacher, der ein Schädel-Hirn-Trauma hat, kann man nicht mit Kräutern oder Akupunktur behandeln, das würde er nicht überleben. Es gibt aber Bereiche, wo die TCM als Ergänzung zur Schulmedizin dient – sogar in der Krebstherapie. Immer da, wo „harte“ Medizin an ihre Grenzen stößt, ist die TCM ein guter Zusatz zur westlichen Medizin.
Was kostet eine Behandlung?
Kräuterheilverfahren sind leider recht teuer, weil die Pflanzen bestimmten Arzneimittelrichtlinien unterliegen. Sie müssen auf Pestizide, Schwermetalle, Qualität und Identität getestet werden. Akupunktur-Sitzungen kosten zwischen 30 und 100 Euro. Wir versuchen aber, von diesem elitären Beigeschmack wegzukommen. Die TCM ist in China eine Volksmedizin.
Die Krankenkassen übernehmen meist nur Akupunktur.
Auch sehr eingeschränkt, und zwar nur bei Knie- und Rückenschmerzen. Früher war das anders. In den 90ern bezahlten die Kassen die Pflanzenheilkunde bei Patienten, die nachweisen konnten, dass sie schulmedizinisch ausbehandelt sind. Dieses Prinzip gilt heute noch für Privatversicherte, da gibt es eine Zwei-Klassen-Medizin, die nicht wegzudiskutieren ist. Kassenpatienten müssen zahlen.
Woran liegt das?
Im Kassensystem wird das übernommen, was die größte Lobby hat. Die Industrie ist bei der TCM praktisch ausgeschlossen, sie verdient an Nadeln und Kräutern nichts, wir verschreiben keine Medikamente. Die Industrie bestimmt aber, was Wissenschaft ist und was bezahlt wird. Dabei kann man schulmedizinisch ausbehandelte Patienten mit der TCM so therapieren, dass sie gesund werden. Die Patienten sind unsere Lobby. Davon lebe ich schließlich seit 30 Jahren. Es ist für mich nicht verständlich, dass nachweislich ausbehandelte Patienten von dieser Medizin ausgegrenzt werden.
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