Wo Alkoholiker alt werden dürfen

AKZEPTANZ Ein diakonisches Altenheim im niedersächsischen Gifhorn nimmt suchtkranke Senioren auf. Man hat sich dort vom Dogma der Therapie verabschiedet und versucht, die Würde der meist alkoholkranken Bewohner zu respektieren. Das Zusammenleben klappt im Großen und Ganzen gut

VON JOACHIM GÖRES

„Onkel Peter ist über 60 Jahre alt und seit rund 40 Jahren von Nikotin, Alkohol und Amphetaminen abhängig“, sagt Mareike Tolsdorf. Heute braucht er Unterstützung, schlug sogar ein Alten- und Pflegeheim vor, in dem er gerne leben wollte. „Voraussetzung wäre jedoch die Abstinenz von Suchtmitteln gewesen. Das ist für ihn aber keine Option.“ Tolsdorf ist Pflegewissenschaftlerin, beschreibt mit diesen Worten aber aus eigener Erfahrung die bislang vergebliche Suche nach einem Seniorenheimplatz für ihren Onkel.

„Ein nasser Alkoholiker kann den Alltagsbetrieb in einem Altenheim sehr stören, wenn er betrunken ist und dabei andere belästigt“, sagt Dieter Schneegans. „Ein normales Haus kann die notwendige Betreuung gar nicht leisten.“ Seit fast 20 Jahren arbeitet Schneegans als Berufsbetreuer und vertritt Menschen in der Region Gifhorn, die ihre Dinge auf Grund von Erkrankungen nicht mehr selber regeln können. Wenn ein von ihm betreuter Alkoholiker in seiner Wohnung zusammenbricht, ins Krankenhaus kommt und es absehbar ist, dass er dauerhaft Hilfe braucht, dann muss sich Schneegans um einen Heimplatz kümmern. „Ich habe das große Glück, dass es in Kästorf ein Heim gibt, das alkoholkranke Senioren aufnimmt“, sagt er. „Dort wird sehr sensibel mit ihnen umgegangen und das Freizeitangebot ist größer als sonst üblich.“

Schneegans spricht von den Alten- und Pflegeheimen in Kästorf, einem Stadtteil von Gifhorn. Im Brömmelkamp bietet die diakonische Einrichtung in zwei Gebäuden 99 Einzelzimmer an. 60 Prozent der Bewohner sind ältere Suchtkranke. Genauso hoch ist der Anteil derjenigen, die keinen Kontakt mehr zu Angehörigen haben. Das Durchschnittsalter der 82 Männer und 17 Frauen liegt bei etwas über 68 Jahren. „Mehr als die Hälfte unserer Bewohner hat Erfahrung mit Wohnungslosigkeit“, sagt Heimleiter Harald Baruschke. „80 Prozent sind noch so mobil, dass sie sich eigenständig außerhalb des Hauses bewegen können.“

Und damit fing zumindest in der Vergangenheit das Problem an. „Bis 1994 galt bei uns ein absolutes Alkoholverbot“, sagt Rüdiger Krafft, Geschäftsführer der Diakonischen Altenhilfe Kästorf GmbH. „Wir haben Taschenkontrollen gemacht, doch die Bewohner haben das nicht verstanden und gesagt: ‚Meine nächste Station ist der Friedhof, warum soll ich mit dem Trinken aufhören?‘“ Auch die Mitarbeiter waren mit dieser Situation unzufrieden. „Als wir dann im Winter draußen zwei fast erfrorene Bewohner gefunden haben, die sich wegen des Alkohols nicht reintrauten, war das für uns der Anlass zum Umdenken.“

Das Alkoholverbot wurde aufgehoben, das Hauptaugenmerk richtet sich seitdem auf vier Punkte: regelmäßige Mahlzeiten, Körperhygiene, die medizinische und pflegerische Versorgung sowie den Erhalt der Würde trotz der Suchterkrankung. Dazu gehört, dass das Personal anklopft und draußen bleibt, wenn der Bewohner keinen Kontakt wünscht. „Das gilt nicht, wenn jemand in einem kritischen Gesundheitszustand ist“, schränkt Baruschke ein. „Innerhalb von 24 Stunden sehen wir jeden Bewohner.“

Spezielle Suchtberatungs-Termine gibt es nicht. „Wir haben aus der Erfahrung heraus unsere Ziele nach unten korrigiert und verzichten auf einen therapeutischen Anspruch“, erklärt Krafft. „Gleichzeitig ist für uns jeder persönliche Kontakt eine Form der Suchtberatung.“ Dazu gehört, dass sieben Mitarbeiter eine Qualifikation zum Suchtberater besitzen.

Besucher müssen sich nicht anmelden und Bewohner nicht abmelden, wenn sie aus dem Haus gehen. Eine Hausordnung gibt es nicht. „Bei uns rennt keiner betrunken lallend im Flur rum, der Alkoholkonsum spielt sich eher im privaten Bereich ab“, sagt Baruschke. „Wir intervenieren nur bei Lärmbelästigung. Und Gewalt wird natürlich nicht geduldet.“ In seiner Zeit als Heimleiter seit dem Jahr 2005 musste Baruschke zwei Bewohnern wegen Gewalt gegen Personen kündigen. „Es darf keine Angst aufkommen, weder bei den Mitbewohnern noch beim Personal.“ Die 59 Mitarbeiter scheinen zufrieden zu sein – die Fluktuation ist gleich Null.

„Die Pfleger und Pflegerinnen sind voll in Ordnung“, findet Torsten Rost. „Ich fühle mich hier wohl. Nur das Essen abends ist Scheiße, immer dieselbe Wurst. Aber das kostet ja auch alles Geld.“ Der 50-Jährige lebt seit einem Jahr im Haus Brömmelkamp und ist stellvertretender Vorsitzender des Heimrates.

105 Euro gibt es im Monat an Taschengeld für Sozialhilfeempfänger. Die werden an bestimmte Personen nur tageweise in kleinen Summen ausgezahlt, damit sie nicht ihr ganzes Geld auf einmal auf den Kopf hauen. „Im Kiosk hier im Haus gibt es am Abend pro Person höchstens zwei Bier. Aber man kann natürlich auch um die Ecke zum nächsten Aldi gehen“, sagt Rost. Zu seinen Aufgaben gehört es, bei Konflikten zu vermitteln. „Jeder kann mal einen schlechten Tag erwischen und hat dann das Gefühl, dass nur Idioten um ihn rum sind. Aber das kriegen wir schon hin“, sagt er. Seit seinem Einzug sei niemand richtig aggressiv geworden. „Fast alle ziehen sich abends auf ihr Zimmer zurück“, sagt Rost. Ältere Alkoholabhängige trinken meist alleine, ohne große Exzesse, sondern eher über den Tag verteilt und halten dabei einen gewissen Pegel.

Bei den Bewohnern gibt es jedes Jahr rund 20 Abgänge – fast alles sind Todesfälle. Etwa die Hälfte der Neuzugänge sind Personen, die aus anderen Heimen geflogen sind – wegen aggressiven Verhaltens oder Alkoholkonsums. „Viele Heime haben keine Strategien, wie sie mit Konflikten umgehen“, sagt Geschäftsführer Krafft. Oft wollten sie Alkoholiker nicht haben, die ihrem Image schaden könnten. „Die Toleranz für schwierige Senioren ist in den letzten 20 Jahren in den Altenheimen gesunken. Wir bekommen Nachfragen aus ganz Norddeutschland und müssen oft absagen, weil wir fast immer voll belegt sind.“

Pro Monat kostet ein Platz je nach Pflegestufe bis zu 2.000 Euro. Meistens übernimmt das Sozialamt die Kosten. Doch es gibt auch einige Selbstzahler – „bürgerliche Menschen“, wie sie Krafft nennt, die sich bewusst für einen Platz in Kästorf entscheiden, wie die ehemalige Bahnbeamtin, der Ex-Staatsanwalt oder der frühere Handelslehrer. „Wir machen keine Werbung bei ihnen“, so Krafft. Kontakte ergäben sich durch die Angehörigenberatung. Dabei sei es von Vorteil, eine diakonische Einrichtung zu sein: „Man nimmt uns ab, dass es uns um den einzelnen Menschen geht.“