Ein Anarchist, ein Diktator

POP Der Wahlberliner Joel Gibb ist der Mann hinter der kanadischen Band The Hidden Cameras. Deren neues Album „Age“ ist ein düsteres Wave-Pop-Album geworden. Anfang Februar stellen sie es im HAU live vor

VON JENS UTHOFF

Dieses Video sollte Schulstoff werden. Das muss zunächst einmal gesagt werden, bevor alles andere gesagt wird. Es geht um den Clip zu „Gay Goth Scene“, die Band heißt The Hidden Cameras. Das mehrfach ausgezeichnete Video des Berliner Regisseurs Kai Stänicke handelt von einer jungen, schwulen Liebschaft an einer Schule. Ein gepiercter Drop-out mit schwarz gefärbtem Haar verliebt sich in einen Mitschüler; die Jungs seiner Klasse mobben ihn horrend. Während also darüber debattiert wird, wie sexuelle Vielfalt an Schulen zu unterrichten sei – sehen Sie sich dieses Video an, liebe Pädagogen und Pädagoginnen.

Dieser kurze Prolog musste sein, und der Inhalt des Clips führt ja auch geradewegs zu Joel Gibb. Ich treffe ihn in einem Café im nördlichen Neukölln, gar nicht weit entfernt von seiner Berliner Residenz etwas südlicher im Bezirk. Gibb – krasse, klare Augen, entschlossener Blick – ist die Person, die sich hinter der kanadischen Band The Hidden Cameras verbirgt. Er lebt in Berlin und seiner Heimatstadt Toronto, und – auch das sollte man vielleicht an dieser Stelle sagen – er hat rein gar nichts mit den Bee Gees zu schaffen.

Der 36-Jährige ist einziges ständiges Mitglied der Band und schart alle paar Jahre ein anderes Musikerensemble um sich, um ein neues Album einzuspielen. Dies hat er nun wieder getan. Das aktuelle, hörenswerte Ergebnis erscheint in diesen Tagen und nennt sich „Age“.

Wie der Protagonist des Videos zu „Gay Goth Scene“ ist auch Gibb schwul, bei den Hidden Cameras ist dies ständiges Thema. Der Clip zur ersten Single hat hingegen nichts mit seiner eigenen Schulzeit zu tun. „Man muss da trennen zwischen dem Text und dem Video. Mir ging es eher um die Liebesgeschichte und deren Verlauf. Ich selbst wurde relativ in Ruhe gelassen in der High School“, erklärt er. Das heißt – er hält kurz inne – etwas war da doch: „Einen Typen gab es, der mich in der Klasse oft als ‚Fag‘ beschimpft hat. Aber der ist später bei einem Motorradunfall gestorben. Das ist wohl eine Art Happy End.“ Gibb verzieht verschmitzt die Mundwinkel.

Ein Song über die Moral

„Age“ sei ein Coming-of-Age-Album, erklärt Gibb. Daher käme nicht nur der einleuchtende Titel, sondern so seien auch die Sujets zu erklären: etwa die reaktionäre elterliche Moral in „Gay Goth Scene“, die im Refrain besungen wird: „We don’t want no gay goth scene in this house / We don’t want no gorgeous teen in your mouth“. Oder auch das sehr adoleszente Gefühl, das „Afterparty“, ein Stück mit Reggae-Einschlag, vermittelt: „That’s all there is, is the afterparty (…) / That’s all there is, the pressure / The pleasure“.

Das Album dreht sich auch um das musikalische Coming of Age des Joel Gibb: „Es enthält mehr Einflüsse der Musik aus meiner Teenagerzeit als die Alben zuvor. Teenie war Gibb ab 1990. Geprägt hat ihn aber die damals gerade vergangene Dekade: die 80er. „Age“ ist ein düsteres Wave-Pop-Album geworden, eines, das größtenteils in f-Moll geschrieben ist. „Ein solches Album wollte ich machen, seit es die Band gibt“, sagt er. Das Ergebnis klingt nun ein bisschen, als ob Frankie Goes to Hollywood eine Aufnahmesession mit Joy Division gehabt hätten, und richtig, das hätte man doch schon immer gerne mal gehört. Während die Vorgängeralben der 2001 gegründeten Band weitaus folkiger waren und mehr Durtöne zu vernehmen waren, sollte das aktuelle Werk exakt so klingen: „Ich hoffe, dass es diese dunkle Atmosphäre hat.“

Wenn man Gibb zuhört, kann man sich auch kaum vorstellen, dass er als Produzent und Komponist etwas veröffentlichen würde, das ein Jota von seinen Vorstellungen abweicht. „Ich bin ein Diktator und ein Anarchist zugleich – das ist eine komische Mischung.“ Denn offen gegenüber Einflüssen, Ideen, Spinnereien sei er. Nur müsse es am Ende so klingen, wie er es will.

Gibb lebt seit 2005 in Berlin. Als er herkam, brauchte er einfach eine größere Stadt, möglichst auf einem anderen Kontinent: „Ich war gelangweilt in Toronto. Die Szene dort war toll, aber mir wurde es zu eintönig.“ Der Trend scheint bei ihm aber Richtung Drittheimat zu gehen: „Ich hätte gerne noch einen weiteren Wohnort, wo es warm ist.“

Ausstellung in New York

Egal, wo er sich gerade aufhält – man muss sich Gibb als Vollzeitkünstler vorstellen. Das Artwork gestaltet er selbst, er hat auch als bildender Künstler bereits eine Soloausstellung in New York gehabt. Zeitgleich zu den Arbeiten zu „Age“ hat er House-Tracks aufgenommen, gemeinsam mit der Chicagoer Produzentin Honey Dijon. Daraus soll eine EP werden.

Schließlich hat er das nächste Hidden-Cameras-Album auch schon so gut wie im Kasten: ein Countryalbum. Es soll 2015 erscheinen, Arbeitstitel ist „Home on native land“. Thema: die Geschichte Kanadas. Der Titel spielt auf die Nationalhymne an. Gibb spricht begeistert von Coverversionen, etwa von der US-Amerikanerin Dolly Parton. Er spricht auch begeistert von seinen MitmusikerInnen auf diesem Album, zu denen die kanadische Sängerin Leslie Feist gehört.

Und Gibb weiß auch, warum er keine Lust hat, sich auf nur ein einziges Projekt zu beschränken: „Mein Kopf will immer all diese Alben machen.“ Wenn die Resultate so gelungen klingen, soll er seinen Kopf mal machen lassen.

■ The Hidden Cameras: „Age“ (Evil Evil/Motor Music). Live am 3. Februar, 20 Uhr, im HAU1 „Gay Goth Scene“- Video zum Beispiel hier: www.tape.tv/musikvideos/The-Hidden-Cameras/Gay-Goth-Scene