Mit Lust gewürzt

GENUSS Wie viel Vernunft verträgt gutes Essen? Man muss sie vorsichtig dosieren, sagt Spitzenkoch Vincent Klink. Eine kleine Schlemmerei

„Bringet dem Maußhardt noch a Bratwurscht!“, ruft Vincent Klink

AUS STUTTGART PHILIPP MAUSSHARDT

Es ist schon dunkel, doch die menschlichen Umrisse, die aus dem Stuttgarter Lichtermeer die Alte Weinsteige heraufstapfen, können nur zu Vincent Klink gehören. Der Koch der „Wielandshöhe“ ist relativ unverwechselbar, auch im Dunkeln. Dünne Köche seien ihm suspekt, hat er einmal gesagt.

In der Küche der „Wielandshöhe“ herrscht kurz vor der Öffnung des Restaurants Hochbetrieb, und irgendein netter Küchenjunge hat dem Chef eine Bratwurst zur Begrüßung hingelegt. Man darf vermuten, dass sie immer daliegt, wenn Vincent Klink seinen Arbeitsplatz betritt, so viel Fürsorge muss sein.

„Jedes zweite Haus in Stuttgart ist inzwischen ein Fitnesszentrum“, sagt Klink, als er sich in seinem Kommandostand neben der Küche für den Abend bereit macht. Kaum eine Besenkammer. Von hier steuert er seine Mannschaft, telefoniert mit Lieferanten oder stellt die Heizung an und aus.

Für einen Gast wie mich ist gerade noch Platz auf einem Hocker, und sollte der Gast auch noch etwas zu essen bekommen, lässt sich unter einem Regal eine kleine Lade ausziehen. „Bringet mol dem Herrn Maußhardt an Teller Kuttla.“ Vincent Klink muss mich beobachtet haben, wie ich ihm neidisch hinter seine Bratwurst dreinschaute.

Klink gehört seit Jahrzehnten zur deutschen Spitzengastronomie. Aber es stimmt auch andersherum: Er gehörte nicht dazu. Er weigert sich inzwischen, irgendwelche Moden mitzumachen, und die Gastrokritiker erschreckt er regelmäßig mit Gerichten wie „Bohneneintopf mit Bratwurst“ oder „Maultaschen mit Kartoffelsalat“, die sie in ihrem Standardkatalog einfach nicht finden. Hummer gibt es bei ihm nur ein einziges Mal im Jahr, an Silvester.

Vinz, wo hast du eigentlich essen gelernt?

„Da, wo es jeder lernt: daheim. Aber das geht ja heute nicht mehr, die meisten Mütter haben das Kochen ja verlernt. Mein Vater war ein Irrer, der brachte alles auf den Tisch, was essbar war. Der war Amtstierarzt und ständig bei den Bauern unterwegs. Von dem hab ich’s.“

Wenn Klink etwas verabscheut, dann die Lebensmittelindustrie. „Die haben uns erst mit Cola und Tiefkühlpizza dick gemacht und jetzt sagen sie uns, dass wir zu dick sind und jetzt fettfreie oder makrobiotische Lebensmittel essen sollen.“

Die Kalbskutteln kommen, in einer sämig dunklen Sauce mit frisch gemahlenem Koriander. „Ich steh auf keine Waage mehr, solange ich auf meine Moto Guzzi draufkomme, ist alles o. k.“, sagt er. In letzter Zeit hat er viel über die neue Lustfeindlichkeit nachgedacht. Warum tut man sich hierzulande mit dem Genießen so schwer? Früher hat er gedacht, es hängt mit dem Glauben zusammen. In katholischen Gegenden werde geschlemmt, in evangelischen war sinnlich immer gleich sündig. „Aber ich glaube, das stimmt nicht. Luther hat es doch in der Hinsicht auch krachen lassen. Manche haben den Luther einfach vergessen.“

„Bringet dem Maußhardt noch a Bratwurscht!“

Heute glaubt er, es könnte vielleicht eher an den historischen Erfahrungen und an den Genen liegen. „Guck mol, der Dreißigjährige Krieg war eine Katastrophe. Das wirkt bis heute nach.“ Hunger als Grunderfahrung: „Die Menschheit hat 30.000 Jahre gehungert, jetzt soll sie auf einmal genießen?“

Lebensfreude sei eine kulturelle Leistung, die gelernt sein will. Ich erzähle ihm, dass ich eher zufällig essen lernte, weil die neue Englischlehrerin in unserer Klasse immer einen sagenhaften Minirock trug. „Ich setzte mich in die erste Reihe, und als ich erfuhr, dass sie abends in einem französischen Restaurant bediente, trug ich mein ganzes Taschengeld dorthin.“ Das gefällt ihm.

„Kürzlich war ich mit meinem 15-jährigen Sohn essen“, sagt er. Da habe er trotz des irritierten Blicks der Mutter dem Sohn Wein bestellt. „Weinkultur ist eine der ältesten Kulturen der Welt“, sagt Klink. Der Umgang damit in südlichen Ländern habe nichts mit Alkoholismus, aber viel mit Genießen zu tun. „Du triffst in Italien selten einen Besoffenen im Gegensatz zu Nordeuropa.“

Wein könnte der Schlüssel sein. „Wo Wein wächst, essen die Leute besser“, sagt er und dann kommt auch schon die „Bratwurscht“, eine kleine, dicke Wurst auf einem Beet von weißen Böhnchen. Klink macht sie täglich frisch, mit Fenchelsamen gewürzt.

Klink kennt vielleicht nicht den Namen der Kuh, die bei ihm als Siedfleisch endet, aber er weiß von jedem Produzenten, wie er seine Tiere hält. Das Schwein hat bei seiner Schwägerin gelebt. „Bio“ ist bei ihm kein EU-Label, sondern ein Sonntagsausflug auf den Bauernhof. „Ich schau mir nicht die Zertifizierung an, ich schau mir den Bauern an, dann weiß ich Bescheid.“

Klinks Kutteln, sage ich ihm, hätten übrigens letztes Mal etwas anders geschmeckt, säuerlicher, mehr nach der Trollinger-Grundsoße. „Wir kochen nicht wie eine Maschine, nach der alles perfekt und gleich wird. Wir variieren manchmal einfach aus der Lust heraus.“ Perfektion, glaubt er, ist der Feind des Genusses. „Je mehr Perfektion, desto weniger Lebensfreude.“ Ein harter Satz, so nah an den Zentralen von Daimler und Porsche.

„Ich war vor Kurzem in Palermo“, sagt Klink. „Dort waren die Leute wirklich arm, aber dass sie auf gutes Essen verzichten, käme denen nie in den Sinn.“

In Zeiten, in denen Zeitschriften wie Beef Auflage gewinnen und gleichzeitig die Zahl der Veganer steigt, steht Klink wie ein Bollwerk in seiner Küche. Wer Waschbrettbäuche mag, wird mit seiner Art von Lebenslust wohl nicht glücklich werden. Aber es gibt ja noch diejenigen, die in ihrer Körpermitte ein Verdauungsorgan kennen, das den Sinn des Lebens jeden Tag an das Hirn zurückmeldet.