Der unsichtbare Herrscher

AUS GOMA DOMINIC JOHNSON

„Ich bin für Kabila“, sagt der Barkeeper in Goma. „Wir wählen hier alle Kabila.“

Der angereiste Universitätsprofessor aus Ostkongos anderer Metropole Bukavu wundert sich. „Wieso?“, fragt er und stopft sein Abendessen in sich hinein, „was hat Kabila für euch getan?“

Der kleine Barkeeper im blütenweißen Hemd lacht kurz auf. „Wir können jetzt endlich wieder atmen!“, ruft er. „Weißt du nicht mehr, wie es früher war, als die RCD-Rebellen hier geherrscht haben? Ich weiß noch, wie eines Morgens ein kleiner Junge erschossen wurde, bloß weil er keine 20 Francs (5 Cent) hatte. Ein Soldat bettelte ihn an, und als er kein Geld hatte, schoss er ihm in den Kopf. Einfach so! Heute passiert so was nicht mehr.“

„Ach, und das liegt an Kabila?“, mokiert sich der dicke Professor im gelben Anzug.

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Kongo hat die Wahl. Am 30. Juli sollen die 60 Millionen Bürger des kriegsgeschüttelten Landes zum ersten Mal frei ihre Führer bestimmen. Da ist viel Raum für Emotionen, denn das Land hat eine lange Geschichte aus Diktatur, Krieg und Verbrechen. Aber hier in Goma, der Hauptstadt der ostkongolesischen Provinz Nord-Kivu, lässt selten jemand seinen Gefühlen freien Lauf. „Jeder hat halt seine Meinung“, sagt ein Bewohner ausweichend.

Es ist ein Gespensterwahlkampf. In Gomas Straßen hängen zwar Transparente belangloser Kleinkandidaten. Die wahren Mächtigen aber haben hier, im Zentrum von Kongos Kriegsgebiet, Wahlwerbung nicht nötig – jeder kennt sie. Die einstigen Rebellen der Kongolesischen Sammlung für Demokratie (RCD), die lange aus Goma heraus gegen Präsident Joseph Kabila kämpften und jetzt mit ihm gemeinsam regieren, haben ihre lokale Parteizentrale sogar gerade geschlossen. Auch Kabila ist im Wahlkampf von Goma unsichtbar, von ein paar gelben Fähnchen seiner Partei abgesehen.

„Nord-Kivu 100 Prozent für JKK, den Kandidaten der Hoffnung“, stand auf dem einzigen Kabila-Transparent, das kürzlich über der Hauptstraße hing. Ende Juni hatte der Staatschef Goma besucht. Eine Woche später war das Tuch verschwunden, und niemand wollte sich daran erinnern, dass es je gehangen hatte.

Einen guten Eindruck hat Kabila in Goma nicht hinterlassen. Seine Präsidialgarde GSSP verprügelte während der Visite den Protokollchef des Provinzgouverneurs, und das moderne Schnellboot, das auf dem Kivu-See die Großstädte Goma und Bukavu miteinander verbindet, ist seit der Benutzung durch die GSSP kaputt. Es wird erzählt, Kabila habe sich aus Kinshasa sogar sein eigenes Wasser mitgebracht. Bevor Besucher ihn begrüßen durften, mussten sie sich damit die Hände waschen. „Die haben sich hier wie in erobertem Feindesland aufgeführt“, erinnert sich ein Bürger.

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„Was hat denn Kabila hier zu sagen?“, fragt der Professor aus Bukavu den Kabila-begeisterten Barkeeper.

Der erinnert sich an die Zeiten des Krieges und brüllt wutentbrannt: „Wo warst du denn damals?“ Die anderen Gäste lassen fast ihre Servietten fallen und folgen belustigt dem Disput.

„Ich war hier“, schreit der Professor gut gelaunt. „Ich habe an der Universität gelehrt.“

„Ach so“, ruft der Barkeeper. „Du warst also auch einer von denen! Hast im weichen Bett geschlafen, während wir gelitten haben. Da, an dem Tisch in der Ecke, saß Sicherheitschef Bizima Karaha. Ich habe ihn bedient! Da saßen die Militärs. Wir haben das alles mitgemacht!“ Er ist richtig sauer.

Der Professor kichert. „Du hast Bizima Karaha bedient?“, fragt er amüsiert. „Also, ich habe gearbeitet, ich habe nicht geschlafen! Und wenn heute manches besser ist als damals, liegt es sicher nicht an Kabila. Der hat Wasser und Strom noch vor den Wahlen versprochen. So ein Blödsinn! Wenn er das könnte, hätte er es längst getan.“

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Goma war Rebellenhauptstadt, seit 1996 die Kongokriege begannen. Die Stadt liegt direkt an der Grenze zu Ruanda, viele Kongolesen leben inzwischen in Gisenyi auf der ruandischen Seite. Dort gibt es Strom und Sicherheit. Ein ganzes Stadtviertel heißt im Volksmund „RCD“ – hier haben sich Kongos Rebellenführer pompöse Villen gebaut. Umgekehrt arbeiten Tagelöhner aus dem dicht besiedelten Ruanda im Kongo. Die beiden Städte leben vom kleinen Grenzverkehr.

In Goma hat die ruandischsprachige Bevölkerungsgruppe des Ostkongos das Sagen. 1996/97 unterstützten ihre Führer zusammen mit Ruandas Armee die Rebellen von Laurent-Désiré Kabila gegen Diktator Mobutu. Danach rebellierten sie selbst gegen Kabila. Bis heute empfinden sie Einmischung aus Kinshasa als bedrohlich. Denn Führer anderer Ethnien vor Ort sehen in ihnen Marionetten Ruandas und stellen ihre Zugehörigkeit zum Kongo in Frage.

In Nord-Kivu, Schauplatz mörderischer ethnischer Konflikte, ist der Wahlkampf – sofern es einen gibt – also ein ethnischer: Die Nichtruander, vor allem die Geschäftsleute des Nande-Volkes, wählen meist Kabila. Die ruandischstämmige Geschäftswelt von Goma steht hingegen hinter Kabilas Gegnern, darunter die RCD. Auf jeder Seite gibt es Abspaltungen, aber die großen Lager stehen fest.

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„Kabila kann doch nichts dafür, dass es hier keinen Strom gibt“, wiegelt der Barkeeper ab. „Der Wasserspiegel des Sees ist gesunken, also gibt es weniger Strom aus dem Wasserkraftwerk.“

Der Professor lacht. „Klar“, sagt er und schiebt den leeren Teller von sich, „die Rebellen haben den See abgesenkt, damit es keinen Strom mehr gibt.“ Jetzt lachen alle. Der Abend ist gerettet.

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Der, der eigentlich den Wahlkampf im Ostkongo überschattet, tritt gar nicht an. Laurent Nkunda, desertierter ruandischstämmiger General, hat sich mit tausenden Soldaten in den Bergen westlich von Goma verschanzt und einen Staat im Staate errichtet, der immer stärker wird. Viele in Goma sind überzeugt, er könne die Provinzhauptstadt im Handstreich einnehmen.

„Bei ihm gibt es Schulen und Krankenstationen; die Soldaten bauen Lebensmittel an und er empfängt Besucher aus ganz Ostkongo“, erzählt ein Vertrauter, der öfter Nkundas Basis bei Kitchanga besucht. „Die Leute wissen: Wo Nkunda herrscht, kommen weder die ruandischen Hutu-Milizen noch Kongos Armee hin“ – beide gelten als die größten Menschenrechtsverletzer und treiben Zivilisten in die Flucht.

Patrick Lavandhomme, Leiter der humanitären Abteilung der UNO in Goma, bestätigt: Kriegsvertriebene kehren eher in Nkundas Hochburg zurück als aus ihr zu fliehen. Überall sonst steigt die Zahl der Vertriebenen im Ostkongo jeden Monat um 120.000, dreimal so viel wie vor einem Jahr.

Lavandhomme konstatiert nach zwei Jahren Friedensarbeit in Goma: „Es ist klarer als früher, wer wo steht, auch die Integration der Armee macht Fortschritte.“ Von einst 90 Hilfszentren für Unterernährte konnten immerhin 60 ihre Arbeit einstellen. „Aber die Sicherheitslage der Bevölkerung hat sich verschlechtert, seit die UN-Mission Monuc gemeinsam mit der Regierungsarmee FARDC gegen Milizen vorgeht“, sagt der Kanadier. Diese Klage hört man überall hier: FARDC-Soldaten plündern und morden genauso wie irreguläre Milizen – und das mit UN-Unterstützung. Kein Wunder, dass sich die Empörung darüber gegen die UN-Mission und den Friedensprozess insgesamt richtet.

Hinzu kommen schwer nachvollziehbare Entscheidungen der EU. Während sie in Kinshasa eine teure Interventionstruppe auf die Beine stellt, hat sie im Ostkongo ein Programm zur Medikamentenversorgung gestrichen. Jetzt müssen Ärzte hier entweder dubiose Billigpillen auf dem lokalen Markt kaufen oder ihre Preise erhöhen. „Statt eines halben kostet die Beratung im Gesundheitszentrum jetzt einen ganzen Dollar“, schimpft Lavandhomme, „im Krankenhaus sogar zwei.“ Das entspricht in Goma einem Tagesverdienst.

Nkunda braucht da die Wahlen gar nicht aktiv zu stören. Er hält sich bereit für den Moment, an dem klar wird, dass auch die gewählte Regierung die Probleme nicht lösen kann. Er hat viele Freunde im Ostkongo: von der Warlordkoalition MRC (Revolutionäre Kongolesische Bewegung), die im Distrikt Ituri gegen UNO und Armee kämpft, bis zu „Selbstverteidigungsarmeen“ in den Goldminen der Provinz Süd-Kivu oder der obskuren „Befreiungsfront des Alur-Volkes“ an der Grenze zum Sudan. Es ist insgesamt eine Rebellenfront in Wartestellung, gegen die niemand etwas ausrichten kann oder will. Auch Kabila nicht.

Internationale Beobachter gehen davon aus, dass Kabila mit Ruanda ein Stillhalteabkommen geschlossen hat. Er soll in Goma im Haus des verhassten einstigen RCD-Sicherheitschefs Bizima Karaha übernachtet haben; und er soll Ruanda zugesichert haben, nach der Wahl die Interessen der ruandischstämmigen Minderheit im Ostkongo zu schützen. Das heißt: Nkunda hat nichts zu befürchten.

Die meisten Kongolesen bezweifeln das. Denn vielleicht steckt dahinter Wahltaktik: Wenn bekannt würde, dass Kabila sich mit Ruanda arrangiert hat, wählen die Nichtruander ihn nicht mehr, also muss er es geheim halten. Er muss sich aber zugleich doch mit den Ruandern des Kongos verständigen, denn dann wählen die ihn auch und er kriegt wirklich die erhofften 100 Prozent. Aber das funktioniert nur, wenn die Ruander es zugleich abstreiten. Wenn also jeder dementiert, dass es ein Wahlbündnis zwischen Kabila und Ruanda gibt, beweist das die Existenz des Bündnisses. Alles klar?

Kongolesen lieben solche intellektuellen Winkelzüge, über die man endlos hinter den großen kongolesischen 0,72-Liter-Bierflaschen diskutieren kann. Es geht immer darum, wer wen am besten übervorteilt – Politik als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

Die einst mächtige multiethnische Zivilgesellschaft des Kongos kommt in diesen Überlegungen nicht vor. Ohne ihre Eigeninitiative hätte der Osten des Landes die Zeit des Krieges nicht überstanden. Heute ist sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihre Führer haben sich für die Wahlen in einer „Sozialen Bewegung für Erneuerung“ (MSR) organisiert. „Null Toleranz gegen Korruption“ prangt über dem Parteisymbol, einem Maiskolben, auf großen weißen MSR-Transparenten in Goma. Aber die MSR ist auch Teil des überparteilichen Kabila-Wahlbündnisses.

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„Für wen bist du eigentlich bei den Wahlen?“, fragt der Barkeeper schließlich den Professor aus Bukavu.

„Ich bin Parlamentskandidat“, sagt der. „Für die MSR.“

Also ist der Professor letztlich doch Unterstützer Kabilas, den er verbal so heftig ablehnt! Seine Gesprächspartner an der Hotelbar jubeln triumphierend. „Du auch!“, schreien sie und umarmen ihn.

„Ja, was soll ich denn machen“, antwortet der Professor verlegen und lacht. „Das ist eben Politik.“