Der zweite Unbeugsame

Ähnlich wie Lance Armstrong zeigt ein anderer Amerikaner dem Schicksal den Mittelfinger: Floyd Landis zählt trotz einer kaputten Hüfte zu den großen Favoriten der diesjährigen Tour de France

AUS VAL D’ARAN SEBASTIAN MOLL

Wenn man mehr als 200 Kilometer mit durchschnittlich 34 Stundenkilometern auf dem Fahrrad durch die Pyrenäen gefahren ist, ist die darauf folgende Prozedur eigentlich das Letzte, was man sich antun möchte.

Trotzdem strahlt Floyd Landis ohne Unterlass, während er das Gelbe Trikot des Tour-Führenden übergestreift bekommt, zur Dopingkontrolle geführt wird, zum Pressegespräch und, Stunden nach dem Rennen und noch immer in den verschwitzten Rennklamotten, ins Studio des französischen Fernsehens. Das Strahlen von Landis ist nicht der Ausdruck einer flüchtigen Euphorie, sondern einer tiefen Befriedigung. „Ich bin sehr, sehr dankbar dafür, heute hier zu stehen“, sagt der blasse Rotschopf aus Pennsylvania. Die Tour de France anzuführen und am bislang schwersten Tag der Rundfahrt bewiesen zu haben, dass er stärker ist als alle anderen – das ist für Landis nicht einfach irgendein Triumph, den man kurz bejubelt. Es ist ein Ankommen nach einer langen, beschwerlichen Reise.

Die Reise hat vor etwa fünfzehn Jahren in Farmersville begonnen, einem Kaff im Pennsylvania Dutch County – der Gegend, in der sich verfolgte Mennoniten aus Holland im 18. Jahrhundert angesiedelt haben. Landis und seine fünf Geschwister wuchsen in einer mennonitischen Familie auf – nach den Regeln der Glaubensgemeinschaft, die jegliche Annehmlichkeiten des modernen Lebens wie Fernsehen oder Autos ablehnt.

Als kleiner Junge benutzte Landis das Fahrrad, um mit einem Freund zum Fischen zu fahren, und entdeckte dabei, dass ihm das Fahren Freude macht. Er bestritt einige Rennen, gewann sie mühelos, und mit 15 eröffnete er seinem Vater, dass er Radprofi werden möchte. Sein Vater Paul meinte jedoch, dass das Gotteslästerung sei. „Ich denke, alles, was man tut, um sich selbst vor anderen hervorzutun, war bei uns Gotteslästerung“, sagt Landis heute. Doch Landis wollte nicht glauben, dass sich Gott am Radfahren stört, und zog mit 17 nach San Diego in Kalifornien, weil es dort eine Mountainbikeszene gab. Vor allem aber, so Landis heute, „weil es der Ort der USA ist, der am weitesten von Farmersville entfernt liegt“. Landis schlug sich für Handgelder und kleine Siegprämien als Mountainbikefahrer durch, bis ihn 2002 Lance Armstrong entdeckte und für seine Tour-de-France-Truppe anheuerte. Als Helfer des großen Champions tat sich Landis so hervor, dass ihm nach der Saison 2004 die Headhunter des Profizirkus bedrängten.

Landis unterschrieb bei der Schweizer Mannschaft Phonak. Ein Schritt, den ihm Armstrong nie verzieh. Dass Landis seinen eigenen Erfolg suchte, wertete der Texaner als persönlichen Verrat. Aber Landis hatte nicht mit seinem Vater gebrochen, um sich dann von Armstrong kurzhalten zu lassen. Er begann härter zu trainieren, hatte den Tour-Sieg vor Augen. Doch schon nach wenigen Wochen zwangen ihn qualvolle Hüftschmerzen zu einem Arztbesuch. „Allein die Tatsache, dass Floyd über Schmerzen klagte“, so sein Arzt Brent Kay, „machte mir Sorgen. Floyd klagt gewöhnlich nicht über Schmerzen.“ Die Sorge war berechtigt. Landis’ Hüftknochen ist nach einem Sturz und durch Blutunterversorgung zum Großteil abgestorben. „Der Knochen sieht aus, wie ein Stück fauliges Holz“, so Kay.

Doch bis vor wenigen Tagen verschwieg Landis seine Beschwerden. Er wollte seinen Vertrag nicht gefährden, seine Chance, ein für alle Mal das zu tun, was man in Farmersville nicht darf: jemand zu sein, der sich hervortut. Zwanzig Monate lang trainierte Landis besessen, still leidend, fünf Stunden pro Tag. Nach dieser Tour wird Landis sich operieren lassen, und niemand weiß, ob er danach weiter Radprofi sein kann. Einen Präzedenzfall für seine Krankheit gibt es nicht. Den gibt es allerdings auch nicht für das, was er jetzt tut. Sein Orthopäde, David Chao, hielt es für unmöglich, mit dieser Diagnose Leistungssport zu betreiben. Landis hingegen sagt, „ich tue es doch, also ist es wohl möglich.“ Das erinnert an seinen Landsmann Armstrong, der nach einer Krebsdiagnose die Tour gewann. Sieben Jahre später hat der Radsport schon wieder eine Legende von einem unbeugsamen Amerikaner, der dem Schicksal den Mittelfinger zeigt und es ganz nach oben schaffen kann.