Die Ehre der Helden

Zidane, Materazzi, der Kopfstoß im WM-Endspiel und kein Ende: Im Internet finden sich auf der Website „youtube“ unter dem Stichwort „Zidane“ zahlreiche Videos, die das Geschehene vertiefen oder in einen größeren Zusammenhang stellen

„Zidane pourqoi. Pourqoi Zidane. Zidane pourqoi. Pourqoi Zidane. Zidane pourqoi. Pourqoi Zidane. Zidane pourqoi. C’est un scandal.“

VON DETLEF KUHLBRODT

Bis zur 110. Minute des Endspiels der Fußball-WM hatte sich die Wirklichkeit der erhofften großen Heldenerzählung gefügt: Frankreich war nur wenige Minuten vom Gewinn der WM entfernt und Zinedine Zidane war dabei, Gott zu werden.

Die Geschichte war fast zu perfekt. Sie hatte viel früher begonnen. Denn nicht rationales Kalkül oder menschlicher Ehrgeiz hatten Zidane im Herbst letzten Jahres dazu bewogen, in die Nationalmannschaft zurückzukommen; sondern es war eine Berufung von höchster Stelle gewesen. Eine mysteriöse Stimme hätte ihm um drei Uhr nachts die Rückkehr befohlen, hatte er damals der Presse erklärt: „Ich musste dieser Stimme gehorchen (…) das ist ziemlich mysteriös und irrational. (…) Die Person existiert, aber sie ist ziemlich weit entfernt (…) Bis zu meinem letzten Atemzug werde ich es nicht sagen. Es ist zu hart.“

Eine Woche später hatte er zwar erklärt, es sei nur sein Bruder gewesen – aber irgendwie passte der verworfene Anfang der Geschichte zu dem, was dann kam: dem grandiosen Spiel gegen Brasilien, dem verschwommenen Bild mit Zigarette, das kurz vor dem Endspiel durch die Presse geisterte, dem hybrischen Elfmeter, seiner Tätlichkeit im Rücken des Schiedsrichters und deren Umstände. Obgleich gleich man den Kopfstoß so oft gesehen hat, wirkt er völlig irreal. Er ist geschehen – die Kameras haben es gezeigt – und gleichzeitig möglicherweise nicht geschehen: Ein französischer Anwalt versucht gerade zu beweisen, dass keiner der Schiedsrichter das Vergehen Zidanes gesehen hatte, sondern nur die Wiederholung der Tätlichkeit in einem Monitor am Spielfeldrand. Somit wäre der Schiedsrichter nach den Regeln nicht berechtigt gewesen, Zidane vom Platz zu stellen. Denn was die Schiedsrichter nicht live, mit eigenen Augen sehen, gilt nach den Gesetzen des Fußballs als nicht geschehen.

Deshalb muss das Endspiel wiederholt werden. Darauf hoffen viele, während sie noch unter starken Fußballentzugssymptomen leiden und sich die Zeit mit vielen Videos vertreiben, die diese oder jene Aspekte des Geschehens hervorheben. Dass Zidane nicht wie geplant zum Gott geworden war, sondern sich entschieden hatte, wieder fehlbar und sterblich zu werden, hat seinen Ruhm eher vergrößert (die christologischen Aspekte der Geschichte sind frappant). Mit dem ambivalenten Menschen, der plötzlich durchdrehte, können sich viele Menschen mehr identifizieren als mit einem Gott.

Im Internet wird Zidane jedenfalls gefeiert und Materazzi wird – zuweilen auch als „Maternazi“– beschimpft. Auf der Website „youtube“ findet man unter dem Stichwort Zidane tausende Videos, die das Geschehene vertiefen oder in einen größeren Zusammenhang stellen. In Vorgeschichten werden die Kontrahenten eingeführt für die nichtexpertistischen Fußballfreunde.

Es gibt Zusammenstellungen der größten fußballerischen Momente Zidanes (www.youtube .com/watch?v=BE30z83dJS0&mode=related&search=) und der übelsten Fouls Materazzis (www .youtube.com/watch?v=7HblsV-urHg bzw. www.youtube.com/watch?v=fGJ4grSnN38). Es gibt die Geschichte des Kopfstoßes in unterschiedlicher Länge mit Originalkommentar in verschiedenen Sprachen (am tollsten der französische O-Ton …), manchmal auch mit einem wehmütigen polnischen Lied unterlegt.

Es gibt diverse Bearbeitungen: Sein Kopfstoß lässt eine neue Galaxie entstehen, Zinedine Zidane agiert unterschiedlich als Super-Mario (www.youtube .com/watch?v =jnXhplwD1m0), ein Video handelt davon, dass Materazzi eigentlich gegen eine Laterne gelaufen ist, die man vom Spielfed zu entfernen vergessen hatte (www.youtube.com/watch?v=5QJ9jMndk1E).

Und in einem kleinen Spiel kann man als Zinedine Zidane mit Mausklick die gesamte italienische Mannschaft ausknocken! Es gibt Diskussionen, in denen die Verteidiger Materazzis eher rar sind: „I’m sorry everybody’s blaming Materazzi. We love him as you love your hero.“

Am besten gefiel mir eine rührende, muppetmäßige Animation mit Thierry Henry, der 16 Sekunden lang immer nur den Kopf schüttelt und den fassungslosen französischen Originalkommentar des Spiels wiederholt: „Zidane pourqoi. Pourqoi Zidane. Zidane pourqoi. Pourqoi Zidane. C’est un scandal.“ (www.youtube. com/watch?v=BE30z83dJS0.)

Und natürlich kann man sich auch angucken, wie Zidane am Abend des 12. Juli im französischen Fernsehen seinen Ausraster rechtfertigt, sich entschuldigt, aber nichts bereuen mag, schließlich sei es um die Ehre der Frauen gegangen, die Materazzi beschmutzt habe (www.youtube.com/watch?v= PSA_I-nFXOU).