Der Berg kommt!

Die Felsstürze am Eiger sind ein beeindruckendes Schauspiel der Natur – vor allem, weil das Stück schon sehr alt ist und seine Bedeutung bei aller Wucht doch sehr banal. Worüber also staunen wir?

von ARNO FRANK

„Weg mit dem Matterhorn! Freier Blick aufs Mittelmeer!“

Sponti-Spruch

Wenn ohne menschliche Mitwirkung der Lauf der Dinge einen Haken schlägt, dann sprechen wir von einem Ereignis. Wenn splittert, bricht, fällt, bebt und staubt, was zuvor alle Zeiten zu überragen schien, dann stammeln wir staunend von einem „Naturschauspiel“.

Gerade so, als wäre der Eiger bei Grindelwald in der Schweiz eine Bühne, auf der die Natur mit spektakulären Spezialeffekten ein erfolgreiches Theaterstück inszenierte, um es endlich mal wieder in die „Tagesthemen“ zu schaffen. Denn Felsstürze sind, wie andere faszinierenden Naturereignisse dieser Größenordnung auch, immer eine schlechte Nachricht. Eine Nachricht, die früher als Zorn der Götter verstanden wurde und heute als Zeichen eines katastrophalen Klimawandels interpretiert wird – was nun an sich nichts Neues ist und im Grunde auf dasselbe hinausläuft. Nein, wirklich verblüffend an diesem Ereignis ist nur seine kolossale Banalität. Da splittert, bricht, fällt, bebt und staubt es also irgendwo in den Alpen. Na und?

Was also fasziniert uns an herabstürzendem Gestein? Wir selbst, die wir uns zu diesem Geschehen in ein Verhältnis setzen. Wer erinnert sich nicht an den einfamilienhausgroßen Brocken, der unlängst ein Auto samt Urlaubern auf der Gotthard-Autobahn unter sich begrub?

Aber der Mensch misst sich am Berg bekanntlich auch dann, wenn der nicht gerade zerbröselt. Ja, angeblich „ruft“ der Berg auch dann, wenn er scheinbar passiv und geduldig in der Gegend herumsteht. Der Berg, diese Anomalie der Ebene, ist auch eine Provokation – und immer ein sehr alter, sehr bedrohlicher Bekannter.

Als solcher spielt der Berg in fast allen großen Menschheitserzählungen eine zentrale Rolle. Respekt muss er immer schon eingeflößt haben – erst als natürliches Hindernis auf den Wanderungen, dann als orientierende Landmarke, die beobachtet und als „Sitz“ des Wetters identifiziert wurde, von wo es nicht weit ist zum Donnergott, den die Kelten dort oben vermuteten. Der Kaiser schläft im Kyffhäuser, bei den Griechen hausten die Götter in einer WG auf dem Olymp, bei den Hindus auf dem Kaylasch, dem Nabel der Welt, dem Scharnier zwischen Werden und Vergehen, Genesis und Apokalypse. Im Lukas-Evangelium prophezeit Jesus, wir würden die Berge noch anflehen: „Fallet über uns!“

Über Jahrtausende war der Berg beides, Grenze und Altar, bevor er als Aussichtsplattform entdeckt wurde. Das war, als der Prophet zum Berg kam, Zarathustra, der erst dann schlau daherreden konnte, als er von seinem Gipfel heruntergestiegen war. Denn der Gipfel galt, mehr noch als die Wüste, den meisten orientalischen Religionen als Ort der Erleuchtung – die klare Luft, die Einsamkeit … und der weite Blick. Noch heute künden Gipfelkreuze, so genannte Himmelsleitern, von dieser alten Funktion der Berge, die auch im Bergsteigergefasel nachhallt, dort oben sei man „dem Himmel näher“.

Petrarcas Aufstieg auf den Mont Ventoux, sein Um-sich-Blicken auf dem Gipfel, gehört denn auch zu den Schlüsselszenen des erwachenden Humanismus – weil er den heiligen Ort zu einer Plattform macht, von der aus er ein Bild von sich selbst und der Welt machen kann, in der er lebt. Dass der Berg dabei natürlich eine Prüfung bleibt, wird uns demnächst wieder die Tour-de-France-Karawane vor Augen führten, wenn sie den Mont Ventoux hinaufkeucht, zur „Bergprüfung“.

Auch wenn er heute längst domestiziert und von Sportlern bezwungen, von Romantikern verklärt, von Ingenieuren untertunnelt und von Geologen vermessen ist, hat der Berg doch einen gewissen Rest seiner metaphysischen Macht und Massivität behalten. Um die Wirkung seiner Atombombe zu demonstrieren, hat das pakistanische Militär nicht das Meer verdampfen lassen oder die Atmosphäre illuminiert, sondern einen Berg im Himalaja erzittern lassen – die Bilder davon gingen um die Welt.

Trotzdem bleibt der Berg, der „rufen“ und „wütend“ sein kann und Opfer „nicht mehr hergeben“ will, immer eine Persönlichkeit. Mal Mönch, mal Jungfrau, meistens aber ziemlich eigen. Wie der Eiger eben.