DIE UNRUHEN IN SÃ0 PAULO SIND EINE ANTWORT AUF DIE SOZIALE KRISE
: Zeit der Schuldzuweisungen

Die erneute Welle der Gewalt im Bundesstaat São Paulo hat in Brasilien vor allem eines ausgelöst: Ratlosigkeit. Zwei Monate nachdem Militärpolizisten auf die Attacken des Verbrechersyndikats „Erstes Hauptstadtkommando“ mit einem Blutbad in den Vorstädten reagiert hatten, scheinen Lösungen ferner denn je. Denn mittlerweile hat der Wahlkampf für die Präsidentschafts-, Kongress- und Gouverneurswahlen im Oktober begonnen – eine Zeit der gegenseitigen Schuldzuweisungen.

Im Regierungslager freut man sich über die Notlage von Geraldo Alckmin, dem Herausforderer von Amtsinhaber Luiz Inácio Lula da Silva. Bis vor kurzem nämlich war der Kandidat der Rechten als Gouverneur für die Sicherheitspolitik in dem 41-Millionen-Einwohner-Bundesstaat verantwortlich. Doch die Bundesregierung sitzt selbst im Glashaus. Ein überzeugendes Sicherheitskonzept, das Lula vor vier Jahren ausarbeiten ließ, wurde nie umgesetzt. Und die Lage in anderen Ballungsgebieten Brasiliens ist kaum weniger dramatisch als die in São Paulo.

Die Bilder von brennenden Bussen erinnern an die Unruhen in der französischen Banlieue. Doch anders als in Frankreich ist beim Protest in Brasilien keine politische Perspektive erkennbar. Auch in puncto sozialer Ausgrenzung, die oft mit nackter Gewalt aufrechterhalten wird, sind Brasiliens Metropolen ihren Pendants in den Industrieländern um einiges voraus. Die Lebenschancen der Kinder und Jugendlichen aus den Favelas sind bedrückend gering. Auch unter dem einstigen Hoffnungsträger Lula klafft die Einkommensschere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander.

Nichts geändert hat sich auch an der Klassenjustiz. Während korrupte Politiker und Unternehmer meist straflos ausgehen, verbringen viele ihrer armen Landsleute wegen Kleindelikten oft Monate in Untersuchungshaft. Hunderttausende Menschen vegetieren auf engstem Raum in Gefängnissen dahin. In einer Haftanstalt im Hinterland São Paulos, die Anfang Juni bei einem Aufstand demoliert wurde, werden seither 1.400 Gefangene wie Vieh auf einem Hof gehalten. Auch viele Armenviertel des Landes sind faktisch rechtsfreie Räume: Tagtäglich verbreitet die Polizei dort Angst und Schrecken. Allein in Rio brachte sie im vergangenen Jahr über tausend Zivilisten um.

Die Gewaltausbrüche von São Paulo sind nicht nur ein Zeichen dafür, dass mafiöse Organisationen ihr Fußvolk mittlerweile schneller mobilisieren können als Politiker oder Basisaktivisten. Sie sind auch eine Antwort auf die soziale Katastrophe – und auf das fantasielose Durchwursteln der Regierung Lula, das immer mehr Resignation auslöst.

GERHARD DILGER