Hin zur reinen Malerei

AUSSTELLUNG Das Paula Modersohn Becker-Museum (PMBM) zeigt die Namensgeberin des eigenen Hauses in einer neuen Sonderschau überzeugend als „Pionierin der Moderne“

VON JENS FISCHER

Paula, ach, die mit dem Modersohn verehelichte Becker (im Folgenden kurz Paula genannt), alle mögen die körperkleine, seelengroße Sucherin. Sie ist Ikone von Emanzipationsbewegungen und stolzes Idol für Durchboxerinnen kreativen Eigensinns. Prima zur Vereinnahmung taugt auch, dass die norddeutsch gewordene Dresdnerin in ihren Bildern immer den Tod hinter der Firnis des Realen lebendig werden ließ, geradezu obsessiv das Mutter-Kind-Thema bearbeitet und mit der Sprache der Blumen eine für viele Ausdeutungen geeignete Symbolik genutzt hat. Vor allem aber ist sie, darauf legen sie im Paula Modersohn-Becker Museum (PMBM) Wert, nicht nur Wegbereiterin, sondern „Pionierin der Moderne“. Das soll die neue Paula-Schau verdeutlichen.

Bremer Museumsgänger sind da vorgebildet. 2007/2008 zeigten die Kunsthalle Bremen und das PMBM, wie die Malerin während ihrer vier Paris-Reisen Kunstgeschichte aufgesogen hat – dokumentierten und suggerierten durch Gegenüberstellungen mit den großen und kleineren Meistern die Auseinandersetzung mit Picasso, Cézanne, Gauguin, Rodin, Rousseau. Im kleinen Rahmen zeigt die aktuelle Zusammenstellung ihrer Werke vieles von dem erneut und einiges mehr – geneigte BesucherInnen können die floral-ornamentale Flegelei des Jugendstils ausmachen, das duftig Helle, flirrend Getupfte erkennen, das dem Impressionismus eigen ist. Ein „Großer stehender Mädchenakt“ lässt an den älteren Lucas Cranach denken, in den Stillleben sind die stürzenden Perspektiven Cézannes zu erleben, andere Werke zeigen Spielereien mit dem expressiv wild-pastosen Farbauftrag van Goghs und dem Farbleuchten Gaugins.

Paula rebelliert. Da wird mit dem Pinselstil der Farbauftrag geradezu reliefartig aufgeraut, statt der Totalen werden Unter-, Schräg-, Aufsichten gewählt, Gegenstände angeschnitten und Motive in beengende Bildausschnitte gequetscht. Auch oder gerade weil die Ausstellung nicht chronologisch, sondern thematisch gegliedert ist, kann erlebt werden, wie die junge Malerin ihren künstlerischen Ausdruck durch Abstraktion vom Gegenständlichen und in der Tiefe analytischer Einfachheit sucht: radikale Reduktion von Perspektive, Tonwerten, Bildaufbau und Realitätsnähe, Betonung der Konturführung.

Nehmen wir die Porträts. So intim, so ungeschönt der Blick auch ist, wir sehen bestenfalls in sich gekehrte – meist recht ausdruckslose Figuren. Geradezu gesichtslose Projektionsflächen. Individuelles verschwimmt, wird verwischt dargestellt, gar nicht mehr ausgestaltet. Bezeichnend die Augen: pupillenlos, ohne Glanzlichter, leer, abwesend schauen sie durch den Betrachter hindurch – und gleichzeitig in unbekannte Ferne, ins Nichts. Entrückung durch eine Mischung aus Resten von Individualität, Idealisierung und Typisierung. Angeblich geht es dabei um eine Konzentration des Ausdrucks.

Bei ihrem Bildnis von Rainer Maria Rilke malt sie seinen Mund, sonst nur Umrisse und fahle Flächen. Das fand der Dichter nicht so schön und erschien zur Sitzung für ein zweites Porträt gar nicht mehr. Nicht der Mensch, nicht die Landschaften stehen bei Paulas Malerei im Mittelpunkt, nicht das Wesentliche wird destilliert, nicht der Gegenstand im Augenblick der Erfassung abgebildet.

Statt der Konzentration auf Inhalte ist ihr Verschwinden zu erleben. Dafür befinden sich Farbe und Form auf dem Weg zur Autonomie, zum Selbstzweck, zur reinen Malerei. Wie sehr Paula große Wirkungen in nobler Beschränkung suchte, wie wichtig die Farbe gegenüber der Darstellung wurde, wie gekonnt sie Gesichter in Flächen zerlegte, also genau das versuchte, was Picasso und Cézanne und Gauguin probierten, das wird im PMBM deutlich.

Einen klitzekleinen Schritt weiter ging Picasso 1907, als er den Kubismus begründete. Henri Matisse fand später zur reifen Farbflächenmalerei. Doch Paula starb 1907 – als Unvollendete.

■ Bis 19. September