Stimmung kann kippen

Seit 13 Jahren verhandelt Moskau über den Beitritt zur WTO. Doch so viele Vorteile bringt die Mitgliedschaft den Russen gar nicht

MOSKAU taz ■ Ungeduld kann man den russischen Unterhändlern wahrlich nicht vorwerfen. 13 Jahre ziehen sich die Verhandlungen über den Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (WTO) bereits hin. Mehrmals schien die Aufnahme zum Greifen nahe, lediglich technische Details waren noch zu prüfen. Doch jedes Mal trudelten in Moskau neue Forderungen ein. Zehn Tage vor dem G-8-Gipfel der größten Industriestaaten der Welt in Sankt Petersburg riss Gastgeber Wladimir Putin der Geduldsfaden. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen seien in Russland offener und liberaler als in manch einem anderen Mitgliedsstaat der WTO, sagte der Kremlchef. Die gesetzlichen Vorleistungen, auf die sich der Aspirant schon vor der Aufnahme eingelassen hatte, könne man auch wieder rückgängig machen, drohte er. Konkret heißt das: Die Quotenregelung für den Import von US-Hühnerkeulen könnte wieder abgeschafft werden.

Seit Tagen sitzen die Unterhändler nun zusammen, um zum G-8-Gipfel noch einen Beitrittskompromiss zusammenzuschustern. Doch das Misstrauen auf beiden Seiten ist groß, besonders seit der Revolution in Orange in der Ukraine im letzten Jahr. Der Kreml sieht hinter dem Umsturz die Hand Washingtons. Das Weiße Haus wiederum missbilligt Russlands Versuch, mit der Schanghaier Organisation für Sicherheit eine asiatische Gegen-Nato aufzuziehen. Dennoch hat Präsident Bush ein Interesse an einem schnellen WTO-Beitritt Russlands. Denn er braucht das Land im Konflikt mit dem Iran.

Mit 146 der 149 Staaten in der WTO hat Russland die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen. Nur Australien, Kolumbien und eben die USA stehen noch aus. Einer der umstrittenen Punkte ist die Einhaltung des Urheberrechts. Aber auch die Öffnung des Finanzdienstleistungssektors geht den USA nicht weit genug. Russland weigert sich, Filialen ausländischer Banken zuzulassen, da die russischen Geldinstitute den großen Konkurrenten aus dem Westen hoffnungslos unterlegen wären. Außerdem begreift Moskau dies auch als einen Aspekt nationaler Sicherheit.

Der Kreml hält den USA dagegen vor, mit zweierlei Maß zu messen. Die Klage gehört gegenüber dem Westen seit langem zum Standardrepertoire – in diesem Fall sind Moskaus Einwände aber nicht von der Hand zu weisen. So gelang dem größten Piraten geistigen Eigentums, China, die Aufnahme in die WTO schon vor sechs Jahren. Und auch längst nicht alle Öl fördernden WTO-Mitglieder lassen – wie von den USA gefordert – ausländische Investoren einfach an ihre Quellen.

Eric Kraus, Portfoliohändler vom Nikitsky Fonds Russland, vermutet politische Motive. WTO-Standards halte Russland besser ein als zahlreiche andere Länder. Auch Demetrius Floudas, von der EU mit einem Projekt zur Förderung des WTO-Beitritts beauftragt, stimmt dem zu. Es sei reine Politik, mit Handel habe es nicht zu tun, meint er.

Ein Motiv für die Störmanöver der USA sei der Rückfall des Kreml in autoritäre Verhaltensweisen. Auch Moskaus Gaskrieg mit der Ukraine zu Jahresbeginn machte Washington hellhörig. Nicht zuletzt hoffen die USA, die Russen durch verstärkten Druck zu mehr Konzessionen beim Kampf gegen den Urheberrechtsmissbrauch bewegen zu können. 1,7 Milliarden Dollar, schätzt die US-Industrie, gingen ihr durch russische Piraterie von Filmen, Musik und Software jährlich verloren.

Floudas warnt davor, den Bogen zu überspannen. Bislang nahm Russland gegenüber der WTO eine neutrale Haltung ein, inzwischen sei sie „leicht negativ“. Für einen totalen Stimmungssturz reiche jedoch eine gezielte Kampagne aus. In der gleichgeschalteten russischen Medienlandschaft stellt dies kein Problem dar. Zumal Russlands Wirtschaft nie eine einheitliche Pro-WTO-Position bezogen hatte.

Vor- und Nachteile eines Beitritts zur Welthandelsorganisation variieren je nach Branche. Noch ist fraglich, ob Russland mittelfristig von einer Integration überhaupt profitieren würde, da die wichtigsten Exportgüter ohnehin keiner hohen Verzollung unterliegen. Im Gegenzug ist Moskau aber verpflichtet, den Binnenmarkt für ausländische Konkurrenten zu öffnen.

Nach Angaben des Ministeriums für Wirtschaftsentwicklung und Handel (MWH) käme die Aufnahme besonders der Metall-, Hütten- und Chemieindustrie zugute. Zurzeit sind in 19 Ländern 107 Schutzmaßnahmen gegen russische Unternehmen in Kraft, die zu 90 Prozent auf die Chemiebranche – darunter vornehmlich Mineraldüngerproduzenten – und Hüttenbetriebe entfallen. 2 Milliarden Dollar büßen die Unternehmen so jährlich ein.

Auch nach einem WTO-Beitritt würden die Barrieren nicht automatisch fallen, nur müssten Beschränkungen dann begründet werden. So erwartet in Russland niemand, dass die EU automatisch Einfuhrzölle abschaffen, sondern bestenfalls herabsetzen werde.

Bedenken hegt auch die Landwirtschaft. Sie befürchtet, in einem freieren Wettbewerb mit westlichen Konkurrenten nicht mithalten zu können. Die EU zahlt ihren Bauern durchschnittlich 400 Euro pro Hektar, Russlands Landwirte erhalten aber nur 12 Euro. Daher lehnt auch Landwirtschaftsminister Alexej Gordijew den WTO-Beitritt ab.

Ein Scheitern der Verhandlungen hätte auf Russlands Wirtschaft somit momentan keinen messbaren Einfluss. Dem antiwestlichen Ressentiment und Isolationstendenzen Moskaus würde ein Misserfolg aber auf jeden Fall Vorschub leisten. KLAUS-HELGE DONATH