Brot mit Spielen

Zugegeben: Wenn alle Koch-Shows verflimmert sind, ist der Ernst des Lebens noch nicht einmal angesprochen. Aber muss man sie zum Ausdruck einer Sucht erklären, sich vom banalen Alltag zu erlösen? Ein medienökologisches Update einer alten kulturkritischen Frage anhand von Johannes B. Kerner

Der Fernsehkonsum hat noch nie jemanden davon abgehalten,älter zu werden, sich zu verlieben oder den falschen Beruf zu wählen

VON DANIELE DELL’AGLI

Konservative Kulturkritik hat neuerdings wieder Konjunktur. Der „Westen“ sei gut beraten, so der Grundton, sich auf seine Stärken zu besinnen und der islamischen Herausforderung mit prinzipienfestem Rückgrat nicht nur in Fragen der politischen Verfassung, sondern auch der Lebensführung und ihrer Moral zu begegnen. Nun ist das Unbehagen am „westlichen“ – sprich urbanen, hedonistischen, polymorph-permissiven – Lebensstil so alt wie seine angeblichen Verfallserscheinungen (Habsucht, Völlerei, sexuelle Ausschweifungen) selbst, die schon Juvenal am Übergang vom ersten zum zweiten Jahrhundert zu satirischen Attacken inspirierten. Er lieferte die Vorlage für den Kirchenvater Tertullian, der zwei Generationen später die Verwerfung des sündigen Lebens einschließlich seines Hauptverantwortlichen – der weiblichen Verführungsmacht – christlich kodifizierte.

Doch das profane Abendland neigt ungefähr so stark zur Dekadenz wie monotheistische Religionen zum Fundamentalismus: In beiden Fällen wird als Verfallsstadium verkannt, was zur Substanz des jeweiligen Weltbilds bzw. Glaubenssystems gehört. Mit einem wesentlichen Unterschied: Die im heidnischen Rom (wie schon zuvor in Babylon und Athen) von größeren Bevölkerungsschichten erprobte Freizügigkeit des Lebenswandels wurde nie zu einer angeblich überlegenen, gar unfehlbaren Werteordnung festgeschrieben (dafür gab es schlicht zu viele konkurrierende Referenzgötter), wie sie totalitäre Monotheismen später für die Durchsetzung ihrer gottgefälligen Kanons von Geboten und Verboten in Anspruch genommen haben.

„Panem et circenses“ – auf diese zum geflügelten Wort avancierte Formel hatte Juvenal einst seine Verachtung für die Massen zum Ausdruck gebracht, die sich von den römischen Herrschern mit „Brot und (Zirkus-)Spielen“ von jeglicher Einmischung in die Politik abhalten ließen. Paul Veyne hat in seiner gleichnamigen Sozialgeschichte antiker Herrschaftsformen nachgewiesen, dass solche Kritik schon damals auf der falschen Prämisse beruhte, es würde sich das Volk nach getaner Arbeit um sinnvollere Dinge kümmern (Politik eben oder Bildung), entzöge man ihm nur die Gelegenheiten, sich zu zerstreuen. Nach allem, was wir wissen, würde jedoch nur die Langeweile überhand nehmen, eine Deregulierung von Gewohnheiten und Umgangsformen wäre die Folge, eine soziale Desintegration, an deren Ende die oft beschworene „soziale Anomie“, also der Verlust normativer Orientierungen stünde.

In seinem jüngst erschienenen Buch „Profanierungen“ erinnert Giorgio Agamben daran, dass „der größte Teil der Spiele, die wir kennen, von uralten heiligen Zeremonien stammt, von Ritualen und Praktiken der Weissagung, die einst im weiten Sinn zur Sphäre des Religiösen gehörten … Dies bedeutet, dass das Spiel die Menschheit von der Sphäre des Heiligen befreit und ablenkt, aber ohne diese einfach abzuschaffen.“ Leider findet die „Menschheit“ – zumindest als „Masse“ – Agamben zufolge keinen Zugang mehr zur profanierenden Dimension des Spiels als einem „nachlässigen“, kreativ unorthodoxen Gebrauch des Heiligen. Vielmehr gibt sie sich passiv einer bloßen „Säkularisierung“ heiliger Kräfte hin, wie sie etwa im faszinierten Konsum von Medienspektakeln ihren Ausdruck finde, einer Suche, die ebenso „verzweifelt“ wie vergeblich die Sucht nach den immer gleichen Reizen reproduziere, die sie von der Banalität des profanen Daseins zu erlösen vermöchten.

Die Frage ist: Hat Agamben recht? Nehmen wir stellvertretend für die „säkulare“ Substanzlosigkeit von Medienspektakeln die aktuelle Konjunktur der Koch-Show, die derzeit auf allen Kanälen zu beobachten ist und die in Kerners Freitagabend-Sendung ein Stadium der Selbstfeier erreicht hat, das die Motive ihrer Erfolgsgeschichte transparent macht. Die Koch-Show, die im Übrigen so alt ist wie das Medium selbst und inzwischen an Frequenz und Beliebtheit alle anderen Fernsehshows übertrifft, verdankt ihre Faszination einer geheimen Affinität zum Sendeformat selbst: In ihrem Verlauf werden einerseits – zunehmend auch in Echtzeit – Gerichte zubereitet, also Dinge hergestellt, die zum anschließenden Verzehr und somit für ihre sofortige Vernichtung bestimmt sind; andererseits produziert die Sendung eine Zeitspanne lang Unterhaltung, sie füllt eine Strecke Lebenszeit mit keinem anderen Inhalt als ebender Vernichtung dieser Lebenszeit, die buchstäblich – aus Trägheit, Neugier oder Langeweile – totgeschlagen oder eben aufgegessen wird. Die Darstellung dieses letzten Aktes – die Verspeisung des gerade Her- und Angerichteten – musste allerdings schon aus Taktgründen bislang ausgespart bleiben, denn das ausgeschlossene Publikum „daheim“ hätte sich brüskiert fühlen können, abgesehen davon, dass mampfende Tischgesellschaften einem Signal zum Wegzappen gleichkommen.

Dieses schlichte, aber alterprobte TV-Genre wird nun in der Kerner-Show mehrfach umgekrempelt. Gleich fünf Köche treten auf, aber nicht in Konkurrenz zueinander, sondern jeweils für einen Gang zuständig, was der Veranstaltung die reißerische, stets auf Wettkämpfe setzende Dramaturgie des „Unterschichtenfernsehens“ erspart; ohne übermäßigen Zeitdruck kommt sogar etwas von der Atmosphäre solider und natürlich chaosträchtiger Küchenarbeit auf, die für sich genommen schon jedem Starkult abhold wäre, würden die Protagonisten ihren Nimbus nicht ohnehin durch permanentes Feixen, Scherzen und Rangeln und vor allem durch ihre Mehrzahl demontieren. Zur kleinen Arena wird die Bühne mit den schlanken Induktionsplatten vorn und den schrankhohen Backöfen im Hintergrund jedoch nicht allein durch ihre elliptische Anlage und einer die Frontalansicht mal umlaufenden, mal überfliegenden Kamera, sondern – auch das ein Novum – durch die Öffnung zu einem Saal mit Livepublikum. Die geladenen „Gäste“, gleichsam eine Abordnung der Millionen „daheim“ Gebliebener, sollen nicht nur das Hantieren an der Küchenzeile, sondern auch die Qualität des dort Hervorgebrachten bezeugen und werden daher nach und nach mit Proben der jeweils elaborierten Gänge verköstigt. Zwischen Akteuren und Gästen (vor Ort und am Bildschirm) wiederum vermittelt, unermüdlich von einem Schauplatz zum anderen flitzend und den Wortfluss aufrechterhaltend, der Moderator.

An diesem Szenario lassen sich ohne weiteres Reminiszenzen eines liturgischen Vorbilds erkennen. Von den Chorhemden der Ministranten (den anfangs noch sauberen Schürzen der Köche) über die aufgetakelten Altäre (die brodelnden, zischenden und dampfenden Herde) und die real im Studio anwesende bzw. virtuell eingeschaltete Gemeinde bis hin zur rituellen Speisung (einschließlich Wein oder Sekt) finden wir, wenn auch seltsam verfremdet, wesentliche Elemente des christlichen Abendmahls wieder. Doch sie alle werden im Laufe des einstündigen Hochamts ebenso unfreiwillig wie hemmungslos verjuxt und veralbert. Anstelle eines Priesters hält die Gegenfigur des Narren alle Teilnehmer bei Laune, bekennt sogar augenzwinkernd, dass er den Obolus (die Gebühren der Zuschauer) verprasst, und sorgt dafür, dass die Festtagsküche abwechselnd einem Zirkus und einem Kindergarten gleicht. Das einst von Opferkulten und Erntedankfesten übernommene eucharistische Ritual wird so – mit einem Akt umgekehrten Synkretismus – seinerseits in einen heidnischen Kontext integriert, in dem der heilige Ernst der Mahlzeit („heilig“, weil unverzichtbar für die Erhaltung des Stoffwechsels, der Lebenslust und der sozialen Beziehungen) von der profanen Heiterkeit läppischer Spiele nicht mehr zu unterscheiden ist. Das sakrale Motiv erscheint mithin hier auf eine Weise verwandelt, die sich medientheologisch (etwa als „Säkularisierung“) nicht mehr fassen lässt.

Auftritt der Medienökologie. Mit der Engführung von Brot und Spielen inszeniert die Kerner-Show zum einen das Wunschbild des Unterhaltungsfernsehens selbst: Es möge die audiovisuelle Versorgung seiner Adressaten diesen so essenziell sein wie das tägliche Brot und so gut schmecken wie ein Fünf-Gänge-Menü vom Sternekoch; mögen Brotbilder und Spielworte wiederum das Bedürfnis nach Unterhaltung und Entspannung ebenso befriedigen wie echte Speisen den physiologischen Hunger und die Ansprüche des Geschmacks. Zum anderen reflektiert sie einen Stand materieller Sorglosigkeit, der mit zunehmender Freizeit die Definition dessen, was „Brot“, also notwendig, und „Spiel“, also frei wählbar, paradoxerweise erweitert hat: Dringender denn je ist jetzt ein spielerisches, verschwenderisches Verhalten zu den elementaren Kulturtechniken selbst geboten, ist etwa die Botschaft der Fernsehköche an ihre deutschen Endverbraucher ernst zu nehmen, sind Kochen und Essen nicht länger als lästige Pflicht, sondern als handwerkliche Herausforderung und Quelle täglich erneuerbaren Genusses zu begreifen.

Der Appell, das kulinarisch Notwendige in ein gastronomisch Angenehmes zu verwandeln, mag in der Vergangenheit nahezu resonanzlos verhallt sein, die massierte Präsenz der Koch-Shows heute könnte ihm ein neues Gewicht verleihen. Dabei darf die Trivialität von Thema und Schauplatz nicht länger davon ablenken, dass es bei der Gestaltung einer gastronomischen Kultur – die als Alltagskultur in Deutschland noch aussteht – um nichts Geringeres als um die Vergeistigung elementarer und traditionell für „niedrig“ erachteter körperlicher Bedürfnisse geht; um die – im Vergleich etwa zur Kultivierung der Sexualität – relativ unproblematische Aufgabe einer Versöhnung mit der Sinnlichkeit, die eo ipso die zeitgemäße Antwort einer profanen Gesellschaft auf die ewiggestrige Dämonisierung von Materialismus und Hedonismus darstellt.

Zugegeben, wenn alle TV-Shows verflimmert sind, ist der Ernst des Lebens mit seinen unabweisbaren Sinnfragen noch nicht einmal berührt, geschweige denn angesprochen. Die Konfrontation und Auseinandersetzung mit den existenziell bedeutsamen und kulturell invarianten Wechselfällen des Schicksals bleibt niemandem erspart. Gerade darum aber ist es abwegig, in dem trotz wohlstandsbedingter Entlastungen von den Mühen und Gefährdungen des Daseins anhaltenden und offenbar keineswegs kompensatorischen, sondern eher komplementären Bedürfnis nach Zerstreuung eine besonders perfide, weil lustbetonte Variante der Seinsverfehlung (und in den Massenmedien ihre ferngesteuerte Organisation) zu vermuten. Dass Fernsehkonsum jemanden davon abgehalten hätte, älter zu werden oder sich zu verlieben; den falschen Beruf zu wählen, zum Arzt zu gehen oder den Tod eines Angehörigen zu betrauern: das ist nicht bekannt. Nicht einmal aus dem Fernsehen.