Der Angepasste


„Wollen wir neue Staaten aufnehmen, reicht der Nizza-Vertrag“

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Vielleicht kann man es sich am besten so vorstellen: Jeden Morgen klopft Leonor Ribeiro da Silva, die langjährige Vertraute des Kommissionspräsidenten aus seiner Zeit als Regierungschef in Portugal, an seine Bürotür. Statt mehrerer unterschiedlich getönter Krawatten legt sie dem 50-Jährigen eine Auswahl möglicher Parolen des Tages vor. Zur Grundsatzdebatte Anfang April im Europaparlament in Straßburg entscheidet er sich für dezent gestreifte Formulierungen: „Die überarbeitete Dienstleistungsrichtlinie sichert die Balance zwischen dem dringend nötigen Binnenmarkt für Dienstleistungen und der Bewahrung des europäischen Sozialmodells.“

Den Herren vom Arbeitgeberverband präsentiert er sich dagegen in dynamischem Neongelb: „Es sind die Kräfte des Marktes, die echte und dauerhafte europäische Gewinner in einem offenen, globalen Handel schaffen.“ Ein kräftiges Rosa wählte er Anfang des Jahres vor der französischen Nationalversammlung. „Indem wir die soziale Dimension bei der Schaffung von Arbeitsplätzen stärken, die Chancengleichheit fördern, füllen wir das Prinzip der Solidarität mit Leben, das ein Herzstück des europäischen Projektes ist.“

Noch jeder EU-Kommissionspräsident hat versucht, aus den Fehlern seines Vorgängers Lehren fürs eigene politische Überleben zu ziehen. Schließlich erwartet ihn in Brüssel nach seiner mühsam ausgehandelten Berufung kein gepolsterter Chefsessel, sondern ein Schleudersitz. Die gleichen Regierungschefs, die ihn feierlich ins Amt hoben, verwandeln sich in ätzend spöttelnde Gegner, wenn es darum geht, zu Hause Brüssels Beschränktheit und die eigene Weitsicht zur Schau zu stellen. Keiner weiß das besser als José Manuel Barroso. Bis zum Wechsel ins Brüsseler Berlaymont-Gebäude gehörte er schließlich selbst zum Club der Doppelzüngigen.

Jacques Santer wurde zum Verhängnis, dass er es mit der Ausgabenkontrolle nicht so genau nahm. Sein Nachfolger Prodi trieb die Buchprüfungen so weit, dass seine Beamten vor lauter Nachrechnen gar nicht mehr zum Geldausgeben kamen. Auch José Manuel Barroso erfand sich als Gegenentwurf zu seinem Vorgänger neu. Wo der Professor aus Bologna eher zerknittert daherschlurfte, präsentiert sich der Portugiese in makellos sitzenden Anzügen. Wo Prodi mit Sätzen, die sich im Nirgendwo verloren, die Dolmetscher zum Wahnsinn trieb, Englisch und Französisch grausam verstümmelte, zelebriert Barroso die Kunst der freien Rede in vier Sprachen. Erst jüngst entschuldigte er sich bei einem italienischen Journalisten, dass er seine Frage zwar verstehen könne, das Idiom aber noch nicht gut genug beherrsche, um ebenfalls auf Italienisch zu antworten.

Mehr Sympathien brächte ihm das aber kaum ein. Denn der perfekten Verpackung fehlt der Inhalt. Seit dem missglückten Start als ungeliebter Verlegenheitskandidat der Regierungschefs vor zwei Jahren verfolgt der Portugiese nur ein Ziel: es allen recht zu machen. Zunächst legte er sich zwar mit dem Europaparlament an und versuchte den italienischen Fundamentalchristen Rocco Buttiglione als Kommissar durchzuboxen. Als er aber feststellte, dass 732 Abgeordnete mehr Power haben als der italienische Regierungschef Berlusconi, drehte er bei und zog auch die umstrittene lettische Kandidatin Ingrida Udre aus dem Verkehr.

Seit dieser traumatischen Erfahrung steuert Barroso in allen wichtigen europäischen Fragen einen verwirrenden Zickzack-Kurs, dessen Koordinaten durch zwei Faktoren bestimmt werden: die Position der als Ratspräsidentschaft amtierenden Regierung und die vermutete Mehrheitsmeinung im jeweiligen Publikum. „Das ist eben kein richtiger Politiker, sondern jemand, der sich eher als Geschäftsführer einer Holding begreift“, sagt achselzuckend ein Kenner der Brüsseler Szene. „Das Dumme ist nur, dass in dieser Holding die golden share, also die Aktie mit Stimmrecht, alle sechs Monate den Besitzer wechselt.“

Als im Januar 2005 der sozial eingestellte Luxemburger Premier Jean-Claude Juncker die EU-Präsidentschaft übernahm, klangen Barrosos Reden, als seien sie in einer Maschine mit roten Socken zu heiß gewaschen worden – sie nahmen eine leichte rosa Tönung an. Wirtschaftswachstum sei kein Selbstzweck, betonte er nun. Es gehe um Arbeitsplätze, um eine Politik für die Menschen in Europa.

In der zweiten Jahreshälfte schwang das Pendel zurück – die globalisierungsfreundlichen, neoliberal gestimmten Briten waren am Zug. Barroso fühlte sich frei, wieder mehr über Wirtschaft, Unternehmertum und daraus entstehende Jobs zu reden als über die nötigen sozialen Rahmenbedingungen für „die Menschen in Europa“. Von Tony Blair ließ er sich ein Fünf-Punkte-Papier diktieren, das er dem Gipfel von Hampton Court im Oktober als eigenen Beitrag zur Globalisierungsdebatte vorlegte.

Kurz zuvor hatte Jacques Chirac den liberalen Wirtschaftskurs der EU-Kommission scharf angegriffen. Wieder einmal hielt Barroso also eine kleine Kurskorrektur für nötig und griff die ursprünglich von Romano Prodi entwickelte Idee eines Globalisierungsfonds in seinem Thesenpapier auf. Mit jährlich 500 Millionen Euro sollen soziale Härten abgefedert werden. Dieses Schmiermittel sollte Chirac helfen, die von Blair geforderte Überprüfung des EU-Haushalts zur Halbzeit der nächsten siebenjährigen Finanzperiode leichter zu schlucken. Dann kommen nämlich auch die von Frankreich mit Zähnen und Klauen verteidigten Agrarsubventionen auf den Prüfstand.

Beim Dezembergipfel nahmen die Regierungen einen neuen Anlauf, sich über das Budget für die Jahre 2007 bis 2013 zu einigen. Kurz zuvor präsentierte Barroso, dem Brauch entsprechend, seine Position dazu dem Europaparlament. Bei der Finanzfrage sind die Rollen in Europa eigentlich klar verteilt: Für Abgeordnete und Kommission bedeutet ein höheres EU-Budget mehr politischen Gestaltungsspielraum und mehr Macht – sie kämpfen daher gemeinsam dafür, den Haushalt aufzustocken. Die Prodi-Kommission hatte seinerzeit einen eigenen Entwurf vorgelegt, der deutlich über dem Angebot der meisten Mitgliedsstaaten lag. Vor diesem Publikum zog sich nun auch der neue Kommissionspräsident flugs verbal die Spendierhosen über.

Er geißelte den Sparkurs der britischen Ratspräsidentschaft in scharfen Worten: „Europas Glaubwürdigkeit nimmt schweren Schaden, wenn einige Lippenbekenntnisse zur Bedeutung der EU abgeben und gleichzeitig das Portemonnaie fest geschlossen halten.“ Unter begeistertem Beifall der Abgeordneten sagte Barroso, die Ausgaben müssten deutlich erhöht werden, nur „rückwärtsgewandte Nationalisten“ unterstützten die Position von Ratspräsident Tony Blair.

Fünf Tage später, als die Regierungschefs das magere Budget kommenden sieben Jahre einstimmig beschlossen hatten, hatte sich Barroso bereits mühelos der neuen Situation angepasst: „Man kann die Regierungschefs nicht zwingen, über das hinauszugehen, was sie für das Maximum halten“, erklärte er lakonisch. Für die Abgeordneten, die ihre Zustimmung zum Haushalt nur geben wollten, wenn kräftig nachgebessert würde, war das nicht eben hilfreich.

Ähnliche Haken schlägt Barroso nun in der Verfassungsfrage. Hier gehen die Meinungen in den Hauptstädten und den politischen Lagern besonders bunt durcheinander: Kann Europa neue Mitglieder aufnehmen, ohne zunächst seine Strukturen zu reformieren? Muss die Phase des Nachdenkens über diese Reform verlängert werden? Sollten Teile der Verfassung herausgelöst und vorab in Kraft gesetzt werden? Die Positionen sind so vielschichtig, dass dem Kommissionspräsidenten noch mehr Biegsamkeit abverlangt wird als bei anderen Streitthemen.

„Wollen wir neue Staaten aufnehmen, brauchen wir eine Reform“

Anfang Mai forderte er noch, die „Phase des Nachdenkens“, auch Plan D wie Debatte genannt, zu verlängern. Erst 2008 solle grundsätzlich entschieden werden, wie es mit den Reformen weitergeht. Wenige Tage später geißelten Europaabgeordnete Barroso als „Totengräber“ der Verfassung, der die Lähmung Europas für weitere zwei Jahre heraufbeschwöre. Also verlangte er wenig später vor dem Juni-Gipfel, die „Phase des Nachdenkens“ müsse durch eine „Phase des Engagements“ abgelöst werden. Der Teufelskreis des Europessimismus müsse durchbrochen werden. „Wir brauchen das, was die Verfassung enthält.“

Auf dem Gipfel meldete sich auch Ratspräsident Wolfgang Schüssel zu Wort. Nach einer recht ereignislosen halbjährigen österreichischen Präsidentschaft forderte er, nach der „Reflexionsphase“ nun die „Resultatphase“ einzuläuten. Brav echote Barroso: „Wir brauchen ein Europa der Ergebnisse.“ Wer ein erweitertes Europa wolle, müsse eine Reform der Institutionen akzeptieren.

Wenige Tage später sagte er dann jedoch: „Wir gehen davon aus, dass wir mit dem Vertrag von Nizza neue Mitglieder aufnehmen können.“ Ein Blick auf den Kalender erklärt den neuerlichen Kurswechsel: Anfang Juli hatte Finnland die EU-Präsidentschaft übernommen. Der finnische Außenminister hatte gefordert, Europas strukturelle Defizite dürften nicht dazu führen, dass Kandidaten abgewiesen werden.

Wer wissen will, was die Finnen sonst noch bewegt, kann es wiederum Manuel Barroso von den Lippen ablesen: Am 5. Juli kündigte die EU-Kommission an, demnächst einen Vorschlag für die Erhöhung der Mindeststeuer für Alkohol vorzulegen. Bereits im Mai hatten die Finnen diese Forderung zu einem Programmpunkt ihrer Präsidentschaft erklärt.

Kein Wunder, dass der Mann mit der perfekten Mimikri zum Gespött geworden ist. Sein Kalkül, an einer glatt polierten Fassade müsse die Kritik leichter abperlen, ist nicht aufgegangen. Die Amateurkabarettisten, die in Brüssel gelegentlich ein Insider-Publikum mit Persiflagen erfreuen, haben ihn zu ihrem Lieblingsopfer erklärt. Zornig zusammengekniffene Augenbrauen, die Hand zur Faust geballt, dazu mit etwas zu viel Zischlaut vollmundig die Worte: „And I will make this absolutely clear, let us be honest, let us be frank – we want a Europe of results!“ Jeder schauspielerische Laie kann mit dieser Nummer in Brüssel einen ganzen Saal zum Brüllen bringen.