In der Körpermasse

Die hoffnungslos überfüllten Bombayer Vorortzüge hat der Alltag längst wieder im Griff

„In Bombay ist jeder ein Fremder. Darum fühlt sich keiner als solcher“

AUS BOMBAY BERNARD IMHASLY

Die fünf Männer im Zugabteil sind sich einig: Der Virar Fast, der Vorortzug, der um 18.51 Uhr die Churchgate Station verlässt, halte zwar in Bandra, doch sei dort der Zusammenprall der ein- und aussteigenden Passagiere während der zwanzig Sekunden Haltezeit so groß, dass man im Gewühl stecken bleiben würde. Dann wenden sie sich wieder ihrer täglichen Zugroutine zu – der eine studiert die Börsenkurse, zwei ziehen ihr Mobiltelefon hervor, ein Vierter schließt die Augen. Drei Tage zuvor war im gleichen Zug die Erste der sieben RDX-Sprengladungen hochgegangen.

Vier Stunden nach dem Attentat waren am Dienstag wieder die ersten Züge gerollt, zwölf Stunden später war das ganze Netz wieder funktionsfähig. Genauso unbekümmert schien die Bevölkerung. Die Firmen meldeten am Tag danach eine Arbeitspräsenz von 95 Prozent. War dies die unbezähmbare Zähigkeit der Bombayer, von der alle Zeitungen sprachen? Shyam Advani widerspricht: „Es hat nichts mit Mut zu tun, es geht den meisten um ihre Existenz. Sie sind auf ihren Job angewiesen – ein Tag ohne Arbeit heißt ein Tag ohne Einkommen“, sagt der 64-jährige Rechtsanwalt.

Ein junger Mann, der zwischen den Sitzreihen steht, stimmt ihm zu. Hat er keine Angst vor einer neuen Zugbombe? Schließlich gibt es nichts Leichteres für einen Terroristen, im Gewühl der 800.000 Passagiere, die täglich in Churchgate einen Vorortzug nehmen, zuzusteigen und eine RDX-gefüllte metallene Picknickbüchse zwischen den vielen Füßen unter eine Sitzbank zu schubsen. Pramod legt sein Google-Handbuch zur Seite: „Haben wir eine Alternative? Natürlich haben wir Angst. Aber wenn es sein soll, dass wir sterben müssen, dann müssen wir eben sterben.“ „Das Leben geht weiter, das Sterben geht weiter“, hatte eine Zeitung am Tag danach getitelt.

Auch im Nebenabteil scheinen sie wieder zu ihrer Routine zurückgekehrt zu sein. Trotz des Gedränges haben drei Passagiere einen Aktenkoffer auf ihre Knie gelegt und nutzen ihn als Spieltisch. Der vierte Partner steht, den Kartenfächer in der linken Hand, die rechte am Handgriff, der von der Decke baumelt. Sie haben sich noch nie gesehen, obwohl sie jeden Tag diesen Zug nehmen. Bombay ist eine Stadt von Migranten, und eine kleine Stichprobe bestätigt: Nur der Google-Student ist in Bombay geboren. Die anderen stammen aus Gujerat, aus Karatschi, aus dem Panjab.

Der Filmregisseur Shyam Benegal hat einmal gesagt: „In Bombay ist jeder ein Fremder. Darum fühlt sich keiner als solcher.“ Die Kehrseite der Medaille: „Bombay ist voller Unbekannter“, hat die Times of India vom Morgen geschrieben: „Niemand merkt auf, wenn in der Nachbarschaft ein neues Gesicht auftaucht. Das macht es den Terroristen leicht, anonym zu bleiben.“

Fünf Minuten vor Bandra raten die Nachbarn im Abteil, sich zum Eingang vorzukämpfen, drei Meter vom Sitz entfernt. Inzwischen ist der Stehraum eine dichte Körpermasse. Man kann sich nur mit seitlich vorgeschobener Schulter nach vorne robben. Ein Vorortzug fasst offiziell 1.800 Passagiere, in Spitzenzeiten sind es aber bis 5.300. Ein Gerichtsmediziner hat zu Protokoll gegeben, die dichte Ballung von Körpern habe eine Auffangwirkung ausgeübt. Sie habe Leben gerettet, was sich durch die große Zahl von Verletzten äußere (mehr als 1.000 gegenüber 200 Toten).

Dafür waren die Verletzungen entsprechend schwer gewesen. Die Bombe im Schnellzug nach Virar war wahrscheinlich im Gepäckfach unter der Decke versteckt worden. „Viele der Verletzten, die wir bargen, hatten eine Hand verloren, oder sie hatten abgerissene Schultern“, sagte K. K. Verma. Der Grund: „Die Leute hielten sich an den Handgriffen fest, als die Ladung explodierte.“ Verma war der verantwortliche Offizier der Railway Police im Bahnhof von Bandra. Jetzt steht er an einem Seitenausgang mit sechs seiner Beamten, die alle paar Minuten Leute mit Gepäck aus der herausströmenden Menge picken und kontrollieren. Nicht mehr als eine psychologische Geste, sagt Verma. Dasselbe gilt für die Videokameras, die am Vormittag in der gusseisernen Dachkonstruktion des alten Kolonialbahnhofs installiert wurden.

Während der Fahrt kann man beobachten, wie Passagiere über die Geleise laufen und durch Schlupflöcher in den Mauern und Zäunen rund um die Bahnhöfe verschwinden. Wohl Schwarzfahrer, von denen Bombay so viele hat, dass es sogar eine Association of Ticketless Travellers gibt. Sie bietet jenen Pechvögeln Rechtsschutz, die von Inspektoren erwischt werden und denen das tatsächlich schlimme Schicksal droht, im großen Bauch des indischen Justiz- und Gefängnissystems zu verschwinden. Nur am Unglückstag waren die Breschen selbst der Polizei willkommen gewesen: „Sie waren eine Gottesgabe. Ohne diese hätten wir die Verwundeten viel später in die Spitäler gebracht.“ Verma war einer der Ersten am Unglücksort gewesen, als die Explosion den Virar Fast keine zweihundert Meter außerhalb des Bahnhofs zum Stehen gebracht hatte. „Überall lagen Verwundete neben den Geleisen, und der Wagen war eine Masse verbogener und zersplitterte Metallteile. Wir wussten nicht, wo beginnen. Und ich muss sagen, dass die Bewohner der Slums sofort herbeiströmten und uns halfen.“ Im Bahnhof waren nur zwei Tragbahren zu finden. „Einige junge Leute aus Garibnagar rissen die Erste-Klasse-Sitze aus den stehenden Wagen und benutzten sie als Tragbahren.“

Rafiq und Afzal gehörten zu den Helfern der ersten Stunde. „Wir sitzen meistens hier herum, wenn wir keine Arbeit haben“, erzählen sie am nächsten Tag. Sie sitzen unter einem Pfeiler einer Fußgängerbrücke im Slum Naupada – wie am vergangenen Dienstag. „Wir hörten die Explosion und dann rannten wir. Bis spät in die Nacht trugen wir die Verwundeten weg. Einer von uns organisierte die Rikschas, und diese fuhren zwischen dem Bhabha-Spital und Naupada hin und her. Die Frauen gingen zur Blutspende ins Spital.“ Auf dieser Seite des Bahnhofs reichen die Blechkästen der Hütten bis dicht ans Geleise. Die Trasse ist das einzige offene Gelände zwischen den Hütten, und sie ist übersät mit knöcheltiefem Abfall.

Vor den winzigen Ein-Quadratmeter-Läden spielen Kinder in den Pfützen, Frauen feilschen mit einer Gemüseverkäuferin, die ihre Ware mitten auf dem Geleise auf einer Plastikplane ausgelegt hat. Überall stehen junge Männer herum – Mohammed Ibrahim, ein arbeitsloser Seidensticker aus Varanasi, der 17-jährige Shaan, der von einer Karriere als Automobilingenieur träumt, Shahrukh Khan, der sich diesen Namen wohl gegeben hat, um sein beschäftigungsloses Dasein mit dem Namen des berühmten Filmstars aufzuhellen. Naupada ist ein Muslim-Slum. Stehen Muslime hinter den Anschlägen? „Wer kann das schon sagen?“, fragt Ibrahim zurück. „Wer profitiert denn davon? Etwa wir Muslime? Die Politiker hetzen Muslime und Hindus gegeneinander auf, und dann kommen sie und sagen: Wir sind eure Beschützer, wählt uns!. Und erst die Polizei! In den letzten Tagen kamen sie mehrmals vorbei, fragten uns aus. Sie lassen uns spüren, dass wir unter Verdacht stehen.“

Shabbu kann dies bestätigen. Der massige Mann sitzt in Unterhemd und Hüfttuch in einer Hütte, an der Wand hinter ihm hat er ein Bild der Kasbah in Mekka zwischen die Bretter geklemmt. Er war ein Fruchtsaftverkäufer auf Bahnsteig Nr. 7. Er musste so viele Polizeileute mit Geld und Gratissaft bei Laune halten, dass er sie schon in Kategorien aufteilte: „Ich habe die Tageswallahs, die jeden Tag für ein Gratisglas vorbeikommen, dann die Wochenwallahs, die ihre hundert Rupien abholen kommen, und schließlich zwei Polizeioffiziere, die einmal im Monat ihren Tribut bekommen – insgesamt 15 bis 20 Beamte“. Shabbu kam aus Moradabad in Nordindien. Dort müsste er hungern, sagte er, weil es keine Arbeit gibt. „Von hier kann ich wenigstens noch etwas Geld nach Hause schicken.“

Auf einer Mauer sitzen zwei Jungen, keine drei Jahre alt. Einer von ihnen leiert plötzlich, im Stakkato-Tonfall eines oft gehörten Slogans, vor sich hin: „Pakistan Zindabad!“ – „Es lebe Pakistan!“.