Mit jeder Rakete wächst der Hass

Zum ersten Mal seit 15 Jahren gehen in der israelischen Stadt Haifa wieder die Sirenen los. Acht Menschen werden durch die Raketen aus dem Libanon getötet. „Die Libanesen sterben aus Versehen, aber die Hisbollah zielt auf uns“, sagt eine junge Frau

HAIFA taz ■ Die Leute in Haifa brauchen eine Weile, um sich auf die neue Situation einzustellen. Noch in den Mittagsstunden ist der Verkehr fast so dicht, wie in friedlichen Zeiten. Äußerlich völlig gelassen warten ein paar Leute an einer Bushaltestelle. Fußgänger gehen ihren Besorgungen nach. Nur wenige Kilometer entfernt starben kurz zuvor acht Menschen bei einem Raketenangriff aus dem Libanon. Zum ersten Mal seit 15 Jahren, damals bedrohten irakische Scud-Raketen die Stadt, gehen wieder die Sirenen los.

Die 20-jährige Lis ist gerade mit dem Bus unterwegs, als sie den Einschlag hört. „Außer mir und dem Fahrer schien sich niemand sonderlich darum zu kümmern“, sagt sie. „Die Leute hier sind an Explosionen gewöhnt.“ Haifa war wiederholt Ziel palästinensischer Terroristen. Lis setzt die Fahrt zu dem Bekleidungsladen fort, in dem sie arbeitet. Erst als sie den „Kanijon Haifa“, das zentrale Einkaufszentrum, erreicht, schickt sie der Wachmann am Eingang gleich zu den Sicherheitsräumen.

Die kargen Betonräume mit Eisentüren liegen direkt neben den Toiletten und bleiben leer. Die meisten Leute sitzen auf Plastikstühlen draußen auf dem Gang. Eine Gruppe junger Vertreter der Handy-Firma „Cellcom“, alle in weiße Hemden und schwarze Hosen gekleidet, macht es sich auf dem Fußboden neben der Rolltreppe gemütlich. Ein Mitarbeiter des Einkaufszentrums verteilt Mineralwasser in Plastikflaschen.

„Die Libanesen sind auch Opfer der Kämpfe, aber wenn sie sterben, ist das ein Versehen“, sagt Lis. „während die Hisbollah auf uns zielt.“ Die Kämpfe, die die schiitischen Extremisten der Hisbollah (Partei Gottes) und die israelische Armee miteinander führen, werden auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen. Von „schweren Prüfungen“, die Israel noch bevorstehen, spricht Ministerpräsident Ehud Olmert am Sonntag und vertraut auf die „Stärke der Bevölkerung“.

Gegen elf Uhr schlagen erneut Raketen ein. Anstelle einer Vorwarnung ertönt über die Lautsprecher zum fünfzigsten Mal der Werbespot der „Optica Halpering“, die zum Sommer die Kunden mit einem Sonderangebot für Sonnenbrillen zu locken versucht. Diesmal sind die Einschläge im Einkaufszentrum deutlich zu spüren. Trotzdem bleibt Panik aus und nur ein paar Leute bewegen sich in Richtung Sicherheitsräume. Die jungen Mitarbeiter der „Cellcom“ lassen sich nichts anmerken. Auch drei arabische Frauen, die auf Plastikstühlen vor einem inzwischen geschlossenen Buchladen zusammensitzen, denken gar nicht daran, sich in Sicherheit zu bringen. „Ich mag keine Bunker“, sagt die 34-jährige Dalia, die mit ihren beiden Freundinnen auf dem Weg zur Universität war. Vorläufig hat sie noch keine Angst, sagt sie, aber das könne noch werden. „Mit jeder Rakete wächst der Hass. Ich hoffe nur, dass es keinen Krieg geben wird.“

Eine ältere Frau mit einer Einkaufstüte zwischen den Füßen wird mit spöttischem Lächeln bedacht, als sie sich eine Träne wegwischt. Aufgeregt hält sie sich ihr tragbares Radio ans Ohr, setzt es ab, versucht zu telefonieren. Das Telefonnetz war am Morgen komplett zusammengebrochen. Endlich erreicht sie ihre Familie. „Seid ihr in Ordnung?“, ruft sie in das Handy. Im Radio wird der genaue Einschlagsort nicht bekannt gegeben, um den Angreifern keine Hinweise zu geben.

„Du packst jetzt deine Sachen“, gibt die alte Dame telefonische Anweisungen, vermutlich an ihren Mann. Nur wenige verlassen die Stadt. Der Stau an der Ausfahrt von Haifa geht auf eine Baustelle zurück, nicht auf eine Massenflucht. Wohin sollten die Leute auch fliehen, wo die Hisbollah längst im Besitz von Raketen sein soll, die bis nach Beerschewa im Negev reichen. Dalia und ihre Freundinnen greifen auch ihre Taschen. „Wir werden abgeholt“, erklärt sie. Der Wagen steht schon unten.“

Die Stadt hat inzwischen ihr Gesicht verändert. Es sind kaum noch Autos und kein einziger Passant mehr unterwegs. Die Läden sind geschlossen. Bus- und Bahnlinien haben den Verkehr eingestellt. SUSANNE KNAUL