Im Rückzugsreich

Nebenstelle (11): Vom Leben und Schreiben in der norddeutschen Provinz. Er wollte in Sicherheit sein und doch einen Abglanz der Vogelfreiheit erleben – Mirko Bonné über die schal werdende Schönheit des Sachsenwaldes und den Wert der Menschenzugewandtheit

Wo man bei Cechov in der Hoffnung auf das wirkliche Leben nach Moskau rief, rufen und ziehen deutsche SchriftstellerInnen heutzutage in lemminghafter Einhelligkeit nach Berlin. Hieß es nicht einmal: Die Erneuerung kommt von den Rändern? Für die taz nord schreiben SchriftstellerInnen aus der norddeutschen Provinz, was das Wohnen fernab der Metropolen für ihr Schreiben und Leben bedeutet.

Es ist ein vollkommen anderes Leben. Vor den Toren der Stadt, mitten im Wald zu wohnen, verändert alle sinnliche Gewohnheit. Kein besseres Leben, kein reicheres, hinauszuziehen bedeutet die Entscheidung für etwas ganz anderes.

Ich gestehe, ich bin einer, der es beizeiten bedauert, nicht zurück in eine Zeit reisen zu können, wo der Blick über unverbautes, nicht flurbereinigtes Land gehen, wo man selbst stundenlang gehen, schauen und sich in Gedanken verlieren konnte, ohne unversehens an der Umzäunung eines Golfplatzes zu stehen oder begleitet zu werden vom Rauschen der Schnellstraße, die so zeitsparend Gewerbemischgebiet mit Pendlersiedlung verbindet. Weit davon entfernt, die Fülle an Zeit und Weite der Landschaft zu verklären, bin ich mir dennoch sicher, ich wäre erstaunt, wenn nicht erschüttert von der Vielfalt an Eindrücken, die das Leben mit sich gebracht haben muss, bevor wir uns zurückzogen haben in den urbanen Park, nicht ahnend, wie bald er verkommen würde zum globalen Parkplatz. Habitat zufolge werden im Jahr 2050 sechs Milliarden Menschen in Städten leben. Das Land auch im Osten Hamburgs, Geest, Marsch und Feldmark, längst Einzugsgebiet der Medienmetropole. Dennoch liegt unter dem viel größeren Himmel und dem viel geringer zurückgeblendeten Sternenlicht noch immer ein Rückzugsgebiet.

Mehr als das, ein Rückzugsreich. Tief im Sachsenwald, irgendwo zwischen Bergedorf und Büchen sollen wieder Leute in wagenburgähnlichen Siedlungen leben, fernab der Sitcoms, unauffindbar für die Häscher der Gebühreneinzugszentrale. Ich bin Füchsen begegnet auf meinen Wanderungen, Reihern, Habichten, Hasen und Nattern, ich hatte des öfteren ein Pflanzenbestimmungsbuch dabei und bestimmte allein ihrer Namen wegen Berberitze, Schneeballstrauch und Forsythie. Solche Aussteiger aber, wie man sie in Ermangelung einer treffenderen Bezeichnung wohl nennen muss, haben meinen Weg nie gekreuzt. Ich bin nie ausgeraubt worden, war ich nachts mit dem Hund unterwegs, draußen an der Pferdekoppel, wo es mir nach Regen den Atem verschlug vor lauter Duft. Nicht einmal ein verbotenes Lagerfeuer habe ich durch Brombeergebüsche und Unterholz flackern gesehen.

Abglanz der Vogelfreiheit

Denn ich bin nie wirklich tief in den Wald hineingegangen, habe nie Ernst gemacht mit dem Wunsch, in der unberührten Natur zu leben. Die berührte war mir immer lieber. In Sicherheit wollte ich sein und doch einen Abglanz der Vogelfreiheit erleben und beschreiben. Auch deshalb hatte ich ein Schreibzimmer unter drei Blutbuchen, in denen Spechte und Fledermäuse leben und die Knospen und, kaum zu glauben, das Laub abwerfen in fein aufeinander abgestimmter Chronologie. Kenner der Eichhörnchenarten und Lichtungen, sagte ich mir, ich muss nur schreien und jemand kommt und rettet mich. Aber kein einziges Mal habe ich mich auch nur verlaufen.

So befreiend es ist, vor die Tür, durch den Garten und dann unmittelbar in den Wald zu gehen, ich glaube, ich habe es in all dem Blühen und unter den ganzen Spinnen und Schnecken nur deshalb ausgehalten, weil ich drei Tage die Woche in der Stadt war. Nicht die Stadt selbst war mir wichtig, ihre Abwechslung oder, wie Paul Nizon von Paris sagt, die „Lebensumhüllung“. Immer wichtiger mit der Zeit wurden mir Fahren und Unterwegssein zwischen beiden Polen meines Lebens und Arbeitens im Wald und in der Bürocity. In Zug und Bus hatte ich mit einem Mal Zeit. Ich las. Und was mir auch auf den Waldpfaden und Feldwegen allmählich abhanden kam, stellte sich im Gefahrenwerden beim Blick aus dem Fenster wieder von selbst ein, die Augen gingen mir auf, ich sah ganz unerhörte Dinge. Was hatte mich im Grünen so stumpf, was alles im Freien so schal werden lassen?

Der Gleichmut der Arztes

Mit jeder Form der Grundversorgung dort draußen verhält es sich so ähnlich wie mit der medizinischen: Wird es ernst, geht es um Herz oder Hirn, dann ist es angeraten, in die Stadt zu fahren. Es ist kalt im Wald, den Wald schert das wenig. Ohne offenen Kamin ist das Haus nur schwer zu heizen, es gilt, Brennholz zu horten, das aber ist nur erschwinglich, sägt und spaltet man es selbst. Verletzungen durch die Axt verhindert Routine, Gäste jedoch, die beitragen wollten zur Gemütlichkeit und die es romantisch, krass oder wie auch immer fanden, im Schnee beim Schuppen Holz zu hacken, habe ich notdürftig verbunden und zum Arzt gefahren, einer Praxis, der jede Spezialisierung fremd ist, ein Beilhieb wird dort so unbeeindruckt behandelt wie Erfrierungen nach dem Sturz in den winterlichen Feuerlöschteich. Die Arztpraxis, integraler Bestandteil einer Art Dienstleistungszentrum mit Behörden, Bäcker, Bank und Apotheke, das inzwischen längst zum Zentrum des Dorfs avanciert ist.

Hunger nach Aufklärung

Pragmatisch ist auch das kulturelle Angebot. Im Kleinstadtkino die Blockbuster von vor zwei Monaten, auf den paar überhaupt noch bespielten Bühnen Operette und Boulevardtheater, seniorengerecht. In einer Buchhandlung Nizons „Aber wo ist das Leben“ bestellen zu wollen, ist ein aussichtsloses Unterfangen, versuchen Sie‘s im Internet, heißt es freundlich. Dabei hungert die ganze Gegend nach Aufklärung, tief empfundener Gestaltung, ja Erschütterung, jede nur halbwegs niveauvolle Lesung im Gemeindesaal lockt wie einen Schwarm Bremsen nach einem überraschend kühlen Junitag eine Vielzahl so streitbarer älterer Damen an, dass dem Literaturhaus Angst und Bange würde vor solch einer wilden Horde.

„Indem ich durch die Stadt laufe, laufe ich in mich hinein und durch meine Territorien hindurch“, schreibt Paul Nizon, „ich werde auf mich zurückgeworfen, auf das ureigenste Abenteuer der Lebensbewältigung.“ Was hätte das Leben im Exil des Waldes dem entgegenzusetzen? Stille, Muße, Wildgänse. Wiegt das den Verlust an Menschenzugewandtheit auf? Man muss sich entscheiden. Mir fällt die Linde ein, in der Rinde Initialen und Jahreszahlen, weit, weit hinaufgewachsen die Ziffer 1925, da war meine Großmutter fünf, so alt wie meine Tochter heute. Und, Pardon, van Gogh fällt mir ein, seine letzte Notiz, bevor er aus der Provence zurückkehrte nach Paris: „Als ich diesen Morgen meinen Koffer aufgab, sah ich die Felder wieder. Sie waren nach dem Regen frisch und voll Blumen.“