Dauernd unter Druck
: Bis zum Infarkt

Schon zu Zeiten des Manchester-Kapitalismus galt der Spruch: „Weil du arm bist, musst du früher sterben.“ Hierzulande ging man davon aus, dass dieser Satz inzwischen überholt sei. Doch mit der zunehmenden Prekarisierung gewinnt er leider wieder an Bedeutung.

Mehrere Untersuchungen, die in den vergangenen Jahren von Gesundheitswissenschaftlern und Soziologen erhoben wurden, belegen: Arbeitslosigkeit oder drohender Verlust des Arbeitsplatzes können krank machen.

Nach einer im März veröffentlichten Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) weist jeder dritte Arbeitslose gesundheitliche Einschränkungen auf. Die meisten Arbeitslosen würden von Schäden am Muskel-Skelett-System geplagt und hätten psychische Störungen. Zwei Drittel seien so stark geschädigt, dass sie nur schwer ihrer früheren Tätigkeit nachgehen könnten.

Laut einer anderen Studie gilt: Je unsicherer die soziale Lage, umso niedriger die Lebenserwartung und umso höher das Krankheitsrisiko. Dazu kommt: Bei Eltern aus unsicheren sozialen Schichten treten in der Schwangerschaft mehr Stoffwechselstörungen auf, die Kinder kommen mit Untergewicht zur Welt und werden im Schulalter zu dick.

Auch ist der Herzinfarkt im mittleren Erwachsenenalter bei weitem keine Krankheit nur für Manager mit sicherem Einkommen: Herzinfarkt und Depressionen kommen bei Prekären viel häufiger vor als bei Angestellten mit fester Anstellung. So erleiden Beschäftigte, die sich bei der Arbeit voll verausgaben und trotzdem zu wenig Arbeitsplatzsicherheit besitzen, doppelt so häufig Herzinfarkte oder Depressionen.

Den Zusammenhang zwischen Arbeitsplatzsituation und Gesundheit untersuchen in Berlin unter anderem die Forschungsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und das Institut für Gesundheitswissenschaft an der Technischen Universität. An der Fachhochschule Neubrandenburg forscht der Fachbereich Gesundheit und Pflege zum Thema. Auch die Krankenkassen beteiligen sich mittlerweile an der Erforschung des Phänomens.

Eine im März veröffentlichte Studie der Betriebskrankenkassen stellte zwar einen Rückgang von krankheitsbedingten Fehltagen fest. Während 2003 Arbeitnehmer 13,5 Kalendertage krankheitsbedingt fehlten, waren es im vergangenen Jahr nur noch 11,5 Fehltage. 43 Prozent der Beschäftigten fehlten sogar an keinem Arbeitstag. Das heißt allerdings nicht, dass es weniger Kranke gibt. Besorgt berichten Ärzte, dass viele Patienten sich aus Angst um ihren Job vehement dagegen wehren, krankgeschrieben zu werden. Der Rückläufigkeit körperlicher Erkrankungen steht die gleichzeitige Zunahme psychischer Krankheiten gegenüber.

Da die Forschung noch relativ am Anfang ist, gibt es bislang kaum verlässliche Zahlen darüber, wie viele Menschen wegen unsicherer Arbeitsverhältnisse erkranken. Auch konkrete Beratungsangebote für Betroffene sind noch selten. In Hamburg können sich Hartz-IV-Empfänger an eine psychosoziale Beratungsstelle wenden, in Brandenburg berät das Modellprojekt AmigA Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit Betroffene. Wer in Berlin lebt, muss mit Angeboten der Gewerkschaften oder allgemeinen Beratungsstellen wie der Sekis vorlieb nehmen. NINA APIN