Das Leben ist hart, dann stirbt man

Wie ein junger Mann aus einer beschaulichen britischen Familienszenerie in eine brutale osteuropäische Diktatur gerät, wo ganz andere Gesetze des Lebens herrschen: William Nicholson hat mit „Die Gesellschaft der Anderen“ einen klassischen Entwicklungsroman als Psychothriller geschrieben

von JÖRG MAGENAU

Heiner Müller wird gerne mit dem Satz zitiert, die Diktatur sei „natürlich farbiger als die Demokratie“. Auch Shakespeare war für ihn nur in einer Diktatur oder einer Monarchie denkbar. Müller betonte damit den Materialcharakter der DDR für sich als Schriftsteller. Wo die Verhältnisse hart und unfrei sind, ist die Kunst als Mittel der Veränderung gefragt. Also sah er sich in der Diktatur im Vorteil.

Der 1948 geborene britische Drehbuchschreiber, Kinderbuchautor und Dokumentarfilmer William Nicholson scheint das ähnlich zu empfinden, allerdings mit dem Unterschied, dass er in der langweiligeren Demokratie leben und schreiben muss. Sein erster Roman „Die Gesellschaft der Anderen“ führt folglich aus einer beschaulichen britischen Familienszenerie in eine brutale osteuropäische Diktatur, wo andere Gesetze des Lebens herrschen. Der Ich-Erzähler, ein junger Mann, der gerade mit der Schule fertig ist, weiß überhaupt nicht, wie es weitergehen soll. Seine Maxime lautet: „Das Leben ist hart, dann stirbt man.“ Wenn seine Mutter, wie alle Mütter, nur will, dass er glücklich ist, empfindet er das schon als ungehörigen Druck. Er will nichts, und schon gar nicht zu etwas gedrängt werden. Soll sie doch selber glücklich sein.

Um der engen Familienwelt und dem Horizont der Bedeutungslosigkeit zu entkommen, bricht er plötzlich auf zu einer großen Reise. Er verabschiedet sich von der Freundin, wirft das Handy noch während des Gesprächs ins Klo und besteigt als Tramper einen Lkw. Das Ziel, das ihm der Fahrer nennt, versteht er nicht, und er ist froh, es nicht zu kennen: Nur wer kein Ziel hat, kann auch nicht enttäuscht werden. Die Reise geht von England aus durch den Kanaltunnel und quer durch den Kontinent. Und schon steckt der Ich-Erzähler mitten in einer dunklen Schmuggelgeschichte. Hinter der ersten richtigen Grenze mit Schlagbaum, wo die Grenzer mit Pornovideos bestochen werden müssen, gerät der Lkw in eine wilde Schießerei. Der Fahrer wird brutal umgebracht, der Lkw angezündet. Der Ich-Erzähler entkommt, in den Händen das Schmuggelgut: das Buch eines exilierten Dissidenten.

Im ersten Moment erscheint es ihm noch als besonders schmerzhaft, seinen Waschbeutel eingebüßt zu haben. Aber was nun folgt, ist ein Horrortrip ins Herz der Finsternis, ein Road-Movie aus dem Inneren des Bewusstseins, ein Stationen-Drama durch die verschiedenen Instanzen der Gesellschaft: Staatsgewalt, Medienmacht, Religion. Vielleicht ist es auch nur ein böser Traum. Der Ich-Erzähler wird von einer terroristischen Bewegung aufgenommen und kommt wenig später in einem dunklen Raum zu sich. Vor ihm liegt eine Pistole und ein toter Mann in seiner Blutlache. Hat er ihn erschossen? Spätestens ab jetzt gehört er zu den Gejagten. Er ist nicht mehr Beobachter, sondern Partei.

William Nicholson hat einen klassischen Entwicklungsroman als Psychothriller geschrieben. Er provoziert die Verwandlung des passiven Ich-Erzählers in einen handelnden Akteur, der begreifen muss, dass auch die Ziellosigkeit nicht davor schützt, ins Geschehen hineingezogen zu werden. Er muss seine Interessenlosigkeit überwinden, um zu überleben. „Die Gesellschaft der Anderen“ ist ein Roman übers Erwachsenwerden und die großen Fragen nach dem Sinn des Lebens. Der Romantitel ist zugleich der Titel des verbotenen Buches, das der Ich-Erzähler aus dem Lkw rettet und studiert. Seltsamerweise enthält es seine eigenen Sätze: „Das Leben ist hart, dann stirbt man.“ Später lernt er als Autor des Buches einen Mönch kennen und akzeptiert ihn als seinen Lehrmeister. „Die Gesellschaft der Anderen“ verändert erneut die Bedeutung: Jetzt ist es eine Art Glücksformel für ein Gefühl der Gemeinsamkeit, wie es sich im fulminanten Finale dieses spannenden, philosophischen Romans einstellt.

William Nicholson: „Die Gesellschaft der Anderen“. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Eichborn, Frankfurt/Main 2006. 258 Seiten, 19,90 €