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: Wie muss ein MP3-Player aussehen?

Wenn Geräte mehr bieten, als man nutzen kann: Warum sich die Maxime „Form follows Funktion“ heute überholt hat

Im Jahr 1980 diagnostizierte der Kulturphilosoph Günter Anders, dass viele technische Geräte „weniger scheinen, als sie sind“. Statt diese Dezentheit zu begrüßen, kritisierte er sie jedoch als „negative Protzerei“. Er deutete die Beobachtung, dass „das Aussehen [der Dinge] nichts mehr von ihrer Bewandtnis verrät“, nicht nur als Abstraktions- und Entfremdungsprozess, sondern sah darin vor allem eine Gefahr: Die Harmlosigkeit eines Geräts verbirgt neben den Potenzialen auch die Risiken, die damit verbunden sein können. Sofern moderne Geräte „das ‚Unphysiognomischste‘ sind, was es je gegeben hat“, bagatellisieren sie sich selbst.

Anders’ bevorzugtes Beispiel waren Atomkraftwerke: Nichts an ihnen lässt die vernichtende Kraft erkennen, die sie freisetzen können. Im Zeitalter der Computerchips sind aber auch Geräte wie Handys oder Tonträger so potent und vor allem auch multifunktional geworden, dass ihr Design das gar nicht mehr ausdrücken kann. Der Grundsatz „form follows function“, dem Anders die Treue hielt, hat sich endgültig überholt. Ein „physiognomisch“ sprechendes Aussehen ist bei Geräten, die so vieles können und die sich zudem individuell programmieren lassen, gar nicht mehr vorstellbar. Tatsächlich sind die Hersteller in gewisser Verlegenheit, wie sie ein Produkt, das primär aus Möglichkeiten besteht, überhaupt gestalten sollen.

In dieser Situation sind zwei Strategien zu beobachten. Manche Unternehmen verfolgen sie sogar parallel. So brachte Sony 2005 zwei MP3-Player auf den Markt, deren Designkonzept sich auf bemerkenswerte Weise unterscheidet. Das eine Modell hört auf den Namen Bean und sieht auch wie ein Bohnenkern aus.

Die Symbolik ist klar: Man wollte an eine Form anknüpfen, die für Anfänglichkeit steht – so als sei keimhaft noch unvorhersehbar viel darin enthalten. Die gesamte Anmutung unterstützt den Eindruck eines Potentialis. Die Oberfläche erinnert an glatt schimmernde, junge – noch gänzlich unverbrauchte – Haut und erzeugt haptische Lust (so als wär’s ein Handschmeichler), die Rundungen lassen sich je nach Neigung als weiblich-weich oder als männlich-muskulös interpretieren. Diese Ambivalenz macht das Produkt anpassungsfähig und geschmeidig, ja ohne eindeutige sexuelle Konnotation bewahrt die Form ihre Unschuld. Sie determiniert nichts und signalisiert: Alles steht noch bevor und lässt sich noch entscheiden – jede Musik hat hier gleichermaßen Platz.

In seinem Buch „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ (2005) erkannte Richard Sennett den „phänomenalen kommerziellen Reiz“ der MP3-Player darin, dass sie „mehr bieten, als man jemals nutzen kann“. Wer ein solches Gerät erwerbe, werde zu einem „Potenz-Konsumenten“, der „eine Erweiterung seiner Möglichkeiten“ kaufe. Das allverheißende Design suggeriert dem Konsumenten, selbst noch unendlich viel vor sich zu haben: Die Potenziale des Geräts fungieren als Lebensversicherung des Besitzers.

Wird mit dem Modell Bean das Ziel verfolgt, die Unerschöpflichkeit und Offenheit in einer an sich abstrakten, dann aber sinnlich attraktiven, geradezu erotischen Form auszudrücken, betreibt man beim Design des fast gleichzeitig entwickelten Network-Walkman Mimikry zu anderen Produkttypen. Wer nicht genau hinschaut, könnte das Gerät für ein Feuerzeug oder auch für ein Parfümfläschchen halten. Hier wird also mit konkreten Assoziationen gearbeitet, ja es werden Metaphern für die Eigenschaften gesucht, die einen MP3-Player auszeichnen. So enthält ein Feuerzeug Energien, mit denen sich ungeahnte Kräfte anfachen lassen; seine klein-harmlose Gestalt verrät nicht, was damit alles passieren kann. Insofern ist es sogar Inbild eines Produkts der Möglichkeiten. Mit einem Flacon hingegen verbindet einen MP3-Walkman die Fähigkeit, blitzartig und unerwartet Atmosphären zu ändern: Die Wahl einer bestimmten Musik kann die Stimmung genauso wie ein Duft verwandeln.

Beide Assoziationen bringen die Potenz des Geräts also metaphorisch und damit anschaulich zum Ausdruck. Auf einmal ist die Gestalt doch wieder „physiognomisch“ sprechend; sie verrät zwar nicht, was das Produkt genau kann, ist nicht seiner Funktion nachgebildet, vermittelt aber eine emotionale Vorstellung seines Charakters. Wer auf solche Designmetaphern verzichtet, begibt sich hingegen in die Gefahr, dass die Suggestion einer Allroundfähigkeit unverbindlich wirkt und die Konsumenten keine Fantasien damit verbinden können – außer es gelingt, wie bei der anderen Strategie, ein sinnliches Erlebnis zu erzeugen, das seinerseits die Einbildungskraft stimuliert. Statt „form follows function“ gilt heute also: „fiction follows form“. WOLFGANG ULLRICH