Tanzsequenz in der Krise

Das Festival „Bollywood & Beyond“ in Stuttgart zeigte aktuelle Filme aus Indien. Doch die Zeiten des Eskapismus im populären Hindi-Kino scheinen zu Ende zu gehen: Stattdessen kehrt die Politik zurück

Die rasante Verbreiterung der indischen Mittelschicht und ein sich ausdiffernzierender Markt verändern das Kino

von EKKEHARD KNÖRER

„Wir pflanzen in Indien nur Bäume, damit wir um sie herumrennen können“, sagt eine der Figuren in „Rang de Basanti“, einem der erstaunlichsten Bollywood-Filme der letzten Jahre (vgl. taz vom 3. 7.). Um-die-Bäume-Rennen ist der freundliche Spott der Inder selbst, mit dem sie die auffälligste Besonderheit ihres Kinos bedenken: die Song-and-Dance-Sequenzen, die auf Englisch auch „Picturization“ heißen, also Verbildlichung, und zwar von Musik. Das Rennen um Bäume, die ewig ähnlichen Liebesgeschichten und Melodramen, machen es leicht, dieses Kino, vor allem seine Form, zu unterschätzen. Diese Form ist immer schon unrein, hybrid, nichts für Puristen, gerade deshalb aber in der Lage, die unterschiedlichsten Themen, Anregungen und Motive in sich aufzunehmen. Nach Jahrzehnten, in denen das populäre Hindi-Kino von teils natürlich grandiosem eskapistischem Entertainment dominiert war, kehren nun ernsthafte politische Auseinandersetzungen zurück. Das hat viel mit der rasanten Verbreiterung der indischen Mittelschicht und einem sich dadurch ausdifferenzierenden Markt zu tun. Die geschickte Auswahl auf dem Stuttgarter „Bollywood & Beyond“-Festival führte eindrucksvoll vor Augen, was derzeit alles möglich ist.

Zum Beispiel eben „Rang de Basanti“ – ein Pamphlet gegen korrupte Politiker und sehr spezifisch gegen solche hindu-nationalistischer Herkunft. Das wird populär verhandelt, also mit Gesang und Tanz, den liebevollen Spott darüber inklusive, und doch gibt es höchst kritische Schlaglichter auf die indische Gegenwart und Kolonialvergangenheit. Ketan Mehtas „Mangal Pandey – The Rising“ (2005) versucht Ähnliches, ebenfalls mit Aamir Khan, dem in seiner Rollenwahl anspruchsvollsten der gegenwärtigen Bollywood-Stars. „Mangal Pandey“ ist ein Historienfilm und versteht sich zweifellos als Nachfolger des Oscar-nominierten Riesenhits „Lagaan“ (2002). Erzählt wird vom Anfang vom Ende der britischen „East India Company“, die 100 Jahre lang die indische Kolonie zugleich ausbeutete und regierte.

Der historisch verbürgte Mangal Pandey (Aaamir Khan) war ein Sepoy, d. h. ein indischer Soldat in britischen Diensten, und wurde im Widerstand gegen die Unterdrücker zum Märtyrer. Der Film ist um ein ausgewogenes Bild der eigenen Vergangenheit bemüht und beschreibt zum Beispiel das britische Verbot der Witwenverbrennung als zivilisatorische Maßnahme. Leider aber gerät er in seiner Anähnelung an Hollywood-Standards arg leblos. Bezeichnenderweise misslingt gerade die Probe aufs Exempel der Bollywood-Form. Als wären sie überflüssig, werden die Song-and-Dance-Sequenzen überaus lieblos zwischen die Handlung gestreut, bestens choreografiert zwar, aber ohne inneren Bezug zum Rest des Films.

Politisch im engeren Sinn sind auch „Apaharan“ (2004) des Routinieres Prakash Jha und Rajkumar Santoshis „Family: Ties of Blood“ (2006), die sich beide mit dem Problem der in Bombay allgegenwärtigen Mafia befassen. „Apaharan“ erzählt von einem jungen Mann (Ajay Devgan), dem man die Aufnahme in die Polizei verwehrt und der dann zum Gangsterboss aufsteigt. Er führt dabei eine Annäherung an Hollywood etwas anderer Art vor und kommt, eine im Gangsterfilm-Genre ohnehin zu beobachtende Tendenz, (fast) ganz ohne Tanzeinlagen aus.

Ein auf etwas krude Weise faszinierender Hybrid ist „Family“, in dem Amitabh „Big B“ Bachchan einen nach Bangkok exilierten Mafia-Paten spielt. Väter und Söhne: ein endloses Thema in Bollywood. Abseits der Karan-Johar-Yash-Chopra-Wohlfühlproduktionen der letzten Jahre („Mohabbatein“ oder „In guten wie in schlechten Tagen“) zeichnet sich freilich ein Wandel ab. Versöhnung versteht sich nicht mehr von selbst. In „Rang de Basanti“ wird der Vater kurzerhand erschossen. In „Family“ muss umgekehrt der kriminelle Vater den noch skrupelloseren Sohn töten, um den Kreis der Gewalt zu durchbrechen.

Das alte Versöhnungsprojekt existiert natürlich noch immer – wie in Bollywood überhaupt so ziemlich alles immer nebeneinander Platz hat. Der aktuelle Superhit „Krrish“ (2006) erzählt – als Fortsetzung des Alien-Films „Koi Mil Gaya“ (2003) – vom naiven Superhelden Krrish (Hrithik Roshan) und klaut dabei freudig Elemente von „Matrix“, der Bond-Serie und auch „Crouching Tiger, Hidden Dragon“ und Co. All das aber wird, so bunt wie beliebig, verindischt, was in diesem Fall leider auch heißt: hemmungslos verkindischt. Am Ende rettet der naive Superhelden-Sohn den naiven Superhelden-Papa aus den Händen des bösen Superschurken und holt ihn aus Singapur zurück in ein idyllisches Indien irgendwo am Ende der Welt.

Seit einigen Jahren haben selbst Vertreter des „Parallel Cinema“, also des indischen Kunst- und Autorenfilms, wie Rituparno Gosh oder Shaym Benegal begonnen, sich die einst verachtete Form Bollywood anzueignen. Das macht die Lage für ein indisches Kino jenseits des Populären noch misslicher, als sie es die letzten Jahrzehnte lang schon war. Auch hier versuchte das Festival, Einblicke zu geben, insbesondere in der etwas unbeholfen betitelten Sektion „Cinema of Language and Regions“. Es ging dabei weniger um die im Westen weithin unbekannten Nicht-Hindi-Industrien, also mit meist wenig Geld gemachte, Bollywood in der Form sehr ähnliche Unterhaltungsfilme in Regionalsprachen wie Tamilisch, Telugu oder Malayalam, die zwei Drittel der populären indischen Filmproduktion ausmachen.

In den Fokus gerückte politische Kunstfilme wie etwa der tamilische Anti-Todesstrafen-Film „Oorukku Nooruper“ (2001) von B. Lenin sind gewiss alle Ehren wert. Sie können jedoch weder das Interesse eines großen einheimischen Publikums noch das der bedeutenden westlichen Festivals gewinnen. Zwischen der mächtigen Form Bollywood einerseits, den ästhetisch relevanten Positionen des Weltkinos andererseits stecken sie fest in einer Art Niemandsland. Es ist ein Verdienst des „Bollywood & Beyond“-Festivals, auch für dieses Niemandsland den Blick zu öffnen.