Einer, der sich nicht wehren kann

JUSTIZSYSTEM Ein Stück Rechtsgeschichte, das nachdenklich stimmt – und ein Film darüber, der es sich lieber einfach macht („Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz“, 20.15 Uhr, ARD)

VON JENS MÜLLER

„Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit“, sagt Rudolf von Ihering, einer der Säulenheiligen der deutschen Rechtswissenschaft. „Ich will aber, dass die sagen, dass ich unschuldig bin! Damit das alle wissen, Herr Gorka!“, sagt Harry Wörz (Rüdiger Klink) zu seinem Anwalt (Felix Klare). Er wurde gerade freigesprochen, zum ersten, aber nicht zum letzten Mal. Über einen Zeitraum von rund dreizehn Jahren lernt er den Unterschied zwischen Straf- und Privatrecht kennen, erfährt, was ein Wiederaufnahmeverfahren ist und was eine Revisionsverhandlung. Es fehlt eigentlich nur noch die Verfassungsbeschwerde, aber sonst wird er schließlich so ziemlich alles mitgemacht haben, was das deutsche Justizsystem in Sachen Form zu bieten hat. Und er wird frei sein.

Keine Beweise

Nachdem es schon Dokumentationen gegeben hat, legt der SWR nun also einen Spielfilm zum „Fall Harry Wörz“ vor. Die Nacht vom 28. auf den 29. April 1997: Das Scheidungsverfahren zwischen Harry Wörz und seiner Frau läuft, das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn ist noch nicht geklärt. In dieser Nacht wird die Frau mit einem Schal stranguliert und erleidet so schwere Hirnschäden, dass sie nie wird aussagen können. Sie war Polizistin in Pforzheim, ebenso wie ihr Vater und ihr neuer Liebhaber. Es ermittelt die Pforzheimer Polizei – offenbar einseitig, mindestens nachlässig, möglicherweise manipulativ. Sie findet keine Beweise, aber Harry Wörz wird 1998 zu elf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Es ist mit Harry Wörz wie mit Gustl Mollath, dessen Fall im vergangenen Jahr für Aufsehen gesorgt hat. Man kann vom Ergebnis ausgehen – die Männer sind frei – und es als Beleg für die unerbittliche Effizienz des Rechtsstaats und seiner Institutionen nehmen, die sich am Ende gegen das fachliche Dilettieren und charakterliche Versagen mehrerer Einzelner – gegen die Willkür – behaupten. Man kann auch davon ausgehen, dass so ein jahrelanger Kampf gegen Windmühlen niemanden ungebrochen lässt. Und dass es da auch Fälle geben muss, die keine mediale Aufmerksamkeit erfahren. In denen die Weggesperrten am Ende nicht frei sind. Obwohl sie es sein sollten. Und zwar nicht, weil alle wissen, dass sie unschuldig sind. Bis heute weiß man nämlich nicht, ob Harry Wörz unschuldig ist. Man weiß, dass er wahrscheinlich unschuldig ist, und vor allem: dass es keine tragfähige Beweisgrundlage gegen ihn gab und er deshalb nie hätte verurteilt werden dürfen.

Der Film von Till Endemann (Buch und Regie) und Holger Joos (Buch) macht es sich da schon sehr einfach. Zwar bleibt ihr Gerichtsdrama bei den bekannten Tatsachen. Aber dramaturgisch ziehen Endemann und Joos alle Register. Zwischentöne sind ihre Sache nicht – sie wollen sich, alle auftretenden Figuren und den Zuschauer festlegen. Was die Fakten nicht hergeben, sollen Bildsprache und Schauspielkunst erledigen. Fiktionalisierung begriffen als Manipulation.

Unschuld vom Lande

Vor drei Jahren hat Rüdiger Klinks im deutschen Fernsehen untererzählter badischer Dialekt geholfen, für den Film „Das geteilte Glück“ einen großartigen Hartz-IV-Papi zu charakterisieren. Jetzt ist er wohlfeil, um Harry Wörz als verfolgte Unschuld vom Lande zu charakterisieren. Wer es trotzdem nicht kapiert hat, dem erklärt es SWR-„Tatort“-Kommissar Felix Klare als sein Anwalt noch einmal ganz explizit: „Harry Wörz ist ein einfacher, ein ehrlicher Mensch. Einer, der sich nicht wehren kann. Deshalb haben sie ihn als Opfer ausgesucht.“ Sie – das sind die Staatsanwälte und Polizisten (etwa Patrick von Blume, auch vom jüngsten SWR-„Tatort“). Den Repräsentanten der Willkür hat der Regisseur ein sardonisch-verschwörerisches Lächeln in die Gesichter gezeichnet. Damit alle wissen, dass Harry Wörz unschuldig ist. Auch wenn sie es so wenig wissen können wie Endemann und Joos.