Sachwalter des nie Dagewesenen

BUCH Ein Porträt der Landkooperative Longo maï zeigt, wie lebendig das Projekt der 70er noch ist

Heute leben rund 200 Personen in den Longo-maï-Projekten

„Landkooperative Longo maï – Kampf gegen imperialistisch-kapitalistische Ausbeutung“ –, das ist der Sound der siebziger Jahre, als die Studentenbewegung ausfranste. Landkooperativen galten damals als Alternative zu den maoistisch-leninistischen Parteisekten, den anarchischen Spontaneisten und allerlei sozialen Bewegungen zwischen Feminismus und den Anfängen der Ökobewegung. Dem romantisch grundierten Rückzug ins selbstbestimmte, naturschonende, einfache Landleben gaben damals wenige eine Überlebenschance. Sie täuschten sich zumindest in einem Fall gewaltig.

Die 1973 in der Provence von schweizerischen und österreichischen linken Aussteigern gegründete Landkooperative Longo maï (der Name bedeutet auf Provenzalisch „Es möge lange dauern“) besteht bis heute und hat Filialen in Mecklenburg-Vorpommern, Kärnten und in der Schweiz, wo in Basel auch die Zentrale liegt. Heute leben rund 200 Personen dauerhaft in den Longo-maï-Projekten. In einem programmatischen Text von 1972 hieß es: „Wir weigern uns, weiterhin ein Spiel zu spielen, das für uns von vornherein verloren ist und nur dazu führt, dass wir kriminalisiert werden. Wir überlassen die Industriegesellschaft, die ihrem sicheren Untergang zugeht, von nun an ihrem Schicksal.“ Es war das pathetische „Adieu“ an das „Räderwerk der Gesellschaft“.

Der Schweizer Ausstellungsmacher und Historiker Andreas Schwab hat die heutigen Mitglieder der Landkooperative, die zum Teil seit dem Anfang dabei sind, getroffen und berichtet über die Gespräche. Er beschreibt in seinem Buch die aktuellen Probleme und das Funktionieren ökologischer Landwirtschaft und des selbstbestimmten Zusammenlebens ohne formelle Hierarchien, verbindet diese Beschreibung aber auch umsichtig mit Einblicken in die Geschichte des Projekts.

Die war nicht immer einfach. Bereits 1979/80 wurde Longo maï bezichtigt, eine autoritär geführte Sekte zu sein, deren Führung sich ein Luxusleben leiste, während die einfachen Mitglieder der Kooperative schufteten und darbten. Die Vorwürfe waren zum Teil berechtigt, aber durchweg übertrieben. Auf jeden Fall regenerierte sich das Projekt aus eigenen Kräften und dank des nie versiegenden Spendenflusses aus der Schweiz – jährlich etwa 1,7 Millionen Euro. Prominente Schriftsteller wie Friedrich Dürrenmatt und Adolf Muschg warben ebenso öffentlich für Longo maï wie christliche Kirchen und Politiker, Professoren und Anwälte. Muschg nannte die Kooperative einmal „Sachwalter des nie Dagewesenen“.

Außer für ihr wirtschaftliches Überleben kämpfte die Agrarkooperative von Anfang an auch in Solidaritätsbewegungen – für Chile und Nicaragua ebenso wie für Flüchtlinge, Außenseiter und Ausländer. Als „Betriebsgeheimnis“ und Überlebensstrategie der Kooperative betrachtet Schwab die eherne Regel, „dass aus der gemeinsamen Tätigkeit für das Allgemeinwohl“, aus der die Kooperative den Unterhalt aller Mitglieder finanziert, „keine individuellen Ansprüche erwachsen“. Einziger Eigentümer ist die Stiftung, und deren Eigentum ist unverkäuflich. Eine Alternative zum herrschenden Kapitalismus bildet das nicht, wohl aber ein anderes Arbeiten und Zusammenleben. Schwabs Buch beeindruckt durch die nüchterne Beschreibung und Analyse einer Lebensform. RUDOLF WALTHER

■ Andreas Schwab: „Landkooperativen Longo maï. Pioniere der gelebten Utopie“. Rotpunktverlag, Zürich 2013, 237 S., 29,90 Euro