In der Falle

AUS BEIRUT KARIM EL-GAWHARY

Der Grenzbeamte wundert sich. Es gibt tatsächlich Menschen, die in diesen Tagen in den Libanon ein- statt ausreisen wollen? Vierzehn Tage gilt das Visum, das er in die Pässe stempelt. „Hoffentlich haben wir bis dahin die Krise überwunden“, sagt er und wünscht gute Fahrt.

Nur wenige Kilometer im Landesinneren, in Stura, hat die israelische Luftwaffe ihr neues Einsatzgebiet auf ihre Weise markiert. Da wo sonst die Straße Richtung Beirut verläuft, klafft ein riesiger Bombenkrater. Aber der spärliche Verkehr fließt trotzdem, das Hindernis wird über kleinere Feldwege umfahren.

Am Abend dann Beirut. Die umkämpfte Stadt wirkt wie ausgestorben. Wo normalerweise das mediterrane Sommerleben tobt, herrscht gähnende Leere. Aber was ist hier noch normal? Ganze Stadtviertel sind in Dunkelheit versunken – die Israelis haben mehrere Elektrizitätswerke zerstört, nun wird in manchen Vierteln der Strom stundenweise abgeschaltet. Der Preis für Propangasflaschen ist um das Dreifache gestiegen, Handyverbindungen kosten inzwischen das Doppelte. Die Anbieter machen ein gutes Geschäft – im Krieg ist der Hunger nach aktuellen Nachrichten riesig.

„Die Leute haben angefangen, Medikamente, die sie regelmäßig brauchen, zu horten“, erklärt Rim Marousch, die Besitzerin der Phoenecia-Apotheke im Zentrum der Stadt, „wir machen Umsätze wie noch nie.“ Eltern kaufen für ihre Kinder so viel Windeln und Babymilch, wie sie können, „alle gehen davon aus, dass der Krieg länger dauern könnte“, meint sie. Waren, die die Apotheke von den Firmen bekommt, werden nicht wie gewöhnlich auf Rechnung geliefert, sondern müssen sofort und bar bezahlt werden. Niemand hier in Beirut traut der Zukunft.

Die Stadt ist voll mit Flüchtlingen. Sie kommen aus dem schiitischen Südlibanon und aus den südlichen Vorstädten Beiruts, die nahezu ständig aus der Luft und von der See her beschossen werden. Die Vereinten Nationen schätzen, dass etwa 400.000 Menschen innerhalb des Landes auf der Flucht sind. Wer Geld hat, mietet sich eine Wohnung im Ostteil Beiruts oder im Norden des Landes, möglichst weit von den bewaffneten Auseinandersetzungen entfernt. In den sicheren Gebieten haben sich die Mieten vervierfacht.

Alle anderen Flüchtlinge warten in Schulen, öffentlichen Gebäuden oder im Beiruter Stadtpark al-Sanayeh darauf, dass wieder Frieden wird. Hier sitzt auf einer Decke auch Inaam Hamud aus Bad Inhausen bei Hannover. Sie ist vor drei Wochen mit einem ihrer Söhne in den Libanon gereist, um ihre kranke Mutter zu besuchen. Inaam weiß nicht mehr weiter. Ihre orientierungslose Mutter sitzt auf der ausgebreiteten Decke neben ihr – das Krankenhaus hat sie trotz ihres Schlaganfalles entlassen, weil es die Betten dringend für die Kriegsverletzten braucht. Die Wohnung der alten Frau in der südlichen Vorstadt ist bombardiert worden, nun sind die drei hier im Stadtpark gestrandet.

„Alle Häuser rund um uns herum wurden bombardiert, wir mussten einfach weg, egal wohin“, erzählt Inaam. Nun weiß sie nicht, wie sie aus dem Libanon wieder rauskommen soll. Selbst wenn sie das könnte – was soll aus ihrer Mutter werden? „Alles ist beschissen«, sagt die 38-Jährige und quittiert den Satz mit einem trockenen Lachen. Sie ist mit ihren Nerven am Ende, „in den letzten Tagen habe ich sechs Kilo abgenommen, dass hätte ich mit der härtesten Diät in Deutschland niemals geschafft“, sagt sie. Eine zusätzliche Ironie: Inaam ist auch nach Beirut gekommen, um die Geburtsurkunden ihrer sieben Kinder für die deutsche Ausländerbehörde zu besorgen. „Ich habe ihnen gesagt, dass meine Kinder in Deutschland geboren sind“, sagt sie, „aber die wollen ja unbedingt libanesische Papiere sehen. Und jetzt das!“ Jeden Tag telefoniert sie mit dem Rest der Familie in Deutschland, die vor Angst um die drei Eingeschlossenen vergeht.

Inaam versteht nicht, warum man diesen bewaffneten Konflikt nicht politisch lösen kann – „wenn zwei israelische Soldaten entführt werden, sollte es einen Austausch geben. Stattdessen sterben nun hunderte Zivilisten. Warum?“, fragt sie.

Zumindest werden die Flüchtlinge gut versorgt. Im Fernsehen werden die Libanesen aufgerufen, ihnen beizustehen. Und die Nachbarschaftshilfe scheint zumindest hier im Park gut zu klappen. Nachbarn bringen Tabletts mit Essen, Brot, Obst, sogar Medikamente von zu Hause vorbei – über alle konfessionellen Grenzen hinweg. Die israelischen Angriffe scheinen die Menschen zusammenzuschweißen.

„Solange die Militärschläge Israels weitergehen, wird niemand die Hisbollah dafür kritisieren, das Ganze ausgelöst zu haben“, erklärt Sarjoun Kantar, der im Park die Hilfe koordiniert. Er ist sich sicher, dass bald eine heftige Diskussion darüber ausbrechen wird, zumal die Hisbollah im Land nicht nur Freunde hat. „Aber solange uns die Israelis täglich bombardieren, werden hier alle zusammenhalten“, sagt er.

Ein paar Meter weiter sucht die Familie Hamzeh Schutz vor der Mittagshitze. Mutter Hamadi sitzt im Schatten eines Baumes. Vor einem Monat ist sie mit ihren beiden Söhnen Mahmud und Yahia aus Phoenix, Arizona, in den USA angereist, um ihren Vater zu besuchen, der in Südbeirut wohnt. Als die israelischen Angriffe begannen, sind sie Hals über Kopf hierher geflohen. Tagsüber sitzen sie im Park, nachts schlafen sie mit vier weiteren Familien in einem Zimmer – 26 Personen. Der achtjährige Yahia und sein zehnjähriger Bruder Mahmud spielen in ihren blauen Reebok-Trikots den ganzen Tag über Fußball. Mahmud ist Brasilien, Yahia Deutschland. Das sei sein Lieblingsteam, sagt er, und Ballack sei ohnehin der Größte.

Angst, sagt der kleine Yahia, hatte er schon, vor allem auf der Flucht hierher in den Park. „Es hat geknallt, als würde alles direkt über unseren Köpfen explodieren“, erinnert er sich. Sein Opa hält sich im Hintergrund, er will eigentlich nur einen Satz loswerden: „US-Präsident Bush schweigt zu all dem hier, für mich ist er der größte aller Terroristen.“ Dann zieht er sich wieder zurück, blickt vor sich hin und schweigt.

Mutter Hamadi will vor allem eines: raus hier. Sie hat eine Green Card, die ihr den Aufenthalt in den USA garantiert, ihre beiden Söhne sind amerikanische Staatsbürger. Schon zweimal war sie im US-Konsulat und hat um Hilfe bei der Ausreise gebeten. Seit zwei Tagen wartet sie nun, dass die Nummer der Botschaft auf dem Display ihres Handys auftaucht.

Andere haben mehr Glück. Im Beiruter Hafen hat ein Schiff angelegt, das schwedische Staatsbürger nach Zypern evakuiert. Mit Bussen und begleitet von Militärjeeps werden hunderte von ihnen zum Kai gebracht. Viele haben libanesische Wurzeln. „Ich habe hier in Beirut den Bürgerkrieg erlebt“, erzählt Zuheila Schmaoun, „in den 80er-Jahren bin ich schließlich nach Schweden geflohen.“ Seit mehreren Jahren kommt sie mit ihren Kindern hierher, um ihnen ihre friedliche, wieder aufgebauten Heimat zu zeigen. „Jetzt erleben sie hier einen Krieg und Szenen aus meiner Vergangenheit, die ich selbst vergessen wollte“, sagt sie, nimmt ihren beiden Söhne bei der Hand und besteigt das Boot. Raus aus dem Krisengebiet.

Ziad hingegen bleibt zurück. Er ist der Leuchtturmwärter in Manara, dem westlichen Stadtteil am Meer. Vor zwei Tagen haben die Israelis seinen Arbeitsplatz beschossen, um das Radar im Turm auszuschalten. „Wir waren zu zwölft oben, als die erste Rakete einschlug. Gott sei Dank wurde keiner verletzt“, sagt er. Er sei mit den anderen die Treppe hinuntergehastet, um sein Leben gelaufen, als die zweite Rakete einschlug. Jetzt steht Ziad etwas auf verloren Posten vor seinem Leuchtturm. Seine Familie ruft mehrmals täglich an und fleht in an, nach Hause zu kommen. Pflichtbewusst bewacht er dennoch weiter den zerstörten Turm. „Was sollen wir gegen die Israelis ausrichten?“, fragt er. „Die schießen doch in unser Land, wann und wie sie wollen. Das einzige, was uns noch bleibt, ist unser Glauben an Gott. Der ist groß – größer als der Leuchtturm und die israelische Armee.“