Jungs? Fehlanzeige

Duldsame Fans kreischen sich vor dem Kosmos-Kino in Ekstase: ein Videodreh mit der Teenie-Band Tokio Hotel

Berlin-Friedrichshain, Dienstag gegen 14 Uhr. Auf der Karl-Marx-Allee ist aus großer Entfernung ein Kreischen zu hören. Laut und spitz kommt der Lärm vom alten Kosmos-Kino, das sich mittlerweile als Event-Ort versucht. Auf dem Vorplatz warten ein- bis zweihundert Teenies vor den Absperrzäunen und kreischen in Richtung Dach. Auf dem Dach ist ein Schlagzeug aufgebaut, auf dem Vordach stehen zwei Verstärker und ebenso viele Mikrofone. Grund der Hysterie: Georg, Tom, Bill und Gustav aus Magdeburg, besser bekannt als „Tokio Hotel“, Teenie-Kapelle mit deutschen Texten, lassen ein Livevideo drehen. Im Hintergrund schwebt eine Zeppelinkamera herum, im angrenzenden Haus an der Pickstraße stehen Menschen in den Fenstern und filmen mit.

Das Management hat sich was einfallen lassen. Ein Dreh auf einem Kinodach! Spannung kommt auf: Wird „Get Back“ gegeben? Nein, die Single heißt „Der letzte Tag“. Einer der Kameramänner trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Ich verachte Jugendliche“, ein junges Mädchen kontert mit „Schule gefährdet die Gesundheit“. Ein breitbeiniger Fotograf bittet zu Einzelaufnahmen ruhmeswilliger Jungfrauen. 5-mal 2 Dixi-Klos stehen bereit, Trinkwasser ist auch reichlich vorhanden, aber der Vorplatz ist bei weitem nicht gefüllt, so groß ist der Hype wohl doch nicht.

Was folgt, ist warten. Das Dach bleibt bis auf weiteres leer. Gelegentlich stapft jemand von der Crew herum, immer wieder von spitzen Schreien begleitet. Auch unten tut sich nicht viel, Schaulustige, Pressevolk, sonst nur Mädchen. Jungs? Fehlanzeige. Nach zwei Stunden in der prallen Sonne wird’s öde. Auf den Klamotten bilden sich Salzkrusten. Man denkt: Was ist das Problem? Warten die auf schlechtes Wetter? Auf weicheres Abendlicht? 15.45 Uhr: Wie einem Ufo entstiegen, erscheinen plötzlich vier Jüngelchen zu einem breiigen Soundmatsch, von dem fast nur ein erstaunlich handfestes Schlagzeug auszumachen ist, und üben sich in Posen. Unten: kreischen, Hände in die Luft recken, zum Beat auf und ab hüpfen. Nach fünf Minuten sind die Extraterritorialen wieder verschwunden, die Menge bleibt, zwei weitere Drehs folgen.

Dazwischen liegt Wartezeit. Wartezeit, in der das Kreischvolk hin und her dirigiert wird, von Tonangeln und Zeppelin umzingelt. Zeit, in der man sich Gedanken über die Zukunft machen kann: Was wird aus Tokio Hotel in zehn Jahren? Wird sich einer von ihnen ins Filmfach retten können? Oder werden sie durch Bierzelte tingeln? Und was für Musik werden die Teens von heute dann hören? Und wie wird die Band heißen, die dann 150 Mädchen zu „Ausziehn! Ausziehn!“-Sprechchören ermuntert?

RENÉ HAMANN