Die Rechtmäßigkeit des Opfers

Seit der Entführung ihrer Soldaten fühlen sich die Israelis wieder als Opfer der Situation. Sie übersehen, dass ihre Regierung nicht zu Verhandlungen und Kompromissen bereit ist

Wer nicht mit den Palästinensern redet, wird weiter Raketen und entführte Soldaten bekommen

In dem Film „Paradise Now“ sagt einer der potenziellen Selbstmordattentäter zu seiner Freundin: „Die Israelis sind in Besitz von beidem: von der absoluten Rechtmäßigkeit des Opfers als auch in Besitz der totalen Macht.“ Ich würde hinzufügen: Wenn beide Seiten den Anspruch auf absolute Rechtmäßigkeit und totale Macht erheben, dann bleibt kein Raum mehr für Mitgefühl.

Wenn die Raketen auf die südlichen und nördlichen Teile Israels niedergehen, dann besinnt sich die jüdische Bevölkerung des Landes auf ihr grundlegendes Opfergefühl: Wir sind ein kleines Volk, das von vielen externen Kräften bedroht wird, denen mit Entschlossenheit und Macht begegnet werden sollte. Dieses grundlegende Opfergefühl stützt sich auf die Rechtmäßigkeit des Schwachen („Wer versucht, dich zu töten, töte ihn zuerst“). Wir haben dieses Opfergefühl in den letzten Dekaden so oft erlebt, dass es uns wie eine zweite Haut geworden ist. Es gibt uns ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und bemächtigt unsere Regierung, in unserem Namen auf den Feind zu schießen, einschließlich dessen Zivilisten; als ob wir im Krieg wären, so wie im Krieg. Wir sind so sehr an dieses Szenario gewöhnt und bevorzugen es vermutlich zu allen anderen möglichen Szenarien in dieser Region.

Das Bewusstsein vieler Israelis kreist um diese Rechtmäßigkeit des Opfers. Es ist kein Zufall, dass wir uns unserer Macht und Stärke sowie deren negativen Auswirkungen auf die anderen, die unter dieser Macht zu leiden haben, viel weniger bewusst sind. Die Opfer haben gegenüber den Tätern einen entscheidenden Vorteil: Sie müssen keine Verantwortung für ihre eigenen Taten übernehmen, da diese nur eine Reaktion auf die bösen Taten anderer sind. Darum sollten wir uns, in diesen Tagen der Bomben und der Kämpfe in Gaza und im Libanon, daran erinnern, dass es unser Verhalten im Libanon und in den besetzten Gebieten war, das zum Entstehen sowohl der Hamas als auch der Hisbollah geführt hat. Diese militanten Organisationen sind zum Teil als Reaktion auf unsere exzessive Gewaltanwendung entstanden. Nachdem diese Organisationen zu einer Größe angewachsen sind, die uns bedroht, beschweren wir uns und sehen uns wieder als Opfer und sie als Terroristen, mit denen man nicht reden kann.

Auch wenn wir dazu neigen, alle Feinde in einen Topf zu werfen, würde ich doch einen klaren Unterschied machen zwischen Hisbollah und der Hamas. Erstere ist eine terroristische Organisation, die sich, dem Völkerrecht zum Trotz, mit Gewalt gegen Israel wendet und dabei auch die Sicherheit der Regierung und der Bevölkerung des Libanon aufs Spiel setzt. Sie wird von den regionalen Interessen Syriens und des Iran angetrieben, und darum sollte sich die internationale Gemeinschaft kümmern. Die israelische Regierung hat das Recht zu versuchen, diese Organisation zu schwächen, und die einzige offene Frage ist, ob die gegenwärtigen Militärschläge dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen, oder ob sie nicht eher die Hisbollah stärken werden, zumindest in den Augen ihrer arabischen Nachbarn.

Anders als die Hisbollah ist die Hamas-Regierung mittels demokratischer Wahlen vom palästinensischen Volk gewählt worden, hauptsächlich als Reaktion auf die vorhergehende korrupte Regierung und weniger aufgrund ihrer Strategie gegen Israel. In den letzten Monaten haben wir, aufgrund des Drucks der Europäer, Mahmud Abbas und Delegierten aus Jordanien und Ägypten, innerhalb der Hamas einen erbitterten Kampf erlebt zwischen dem moderaten Teil der Hamas, angeführt von Ismail Hanijeh, und dem militanten Teil, angeführt von Haled Mashal. Das „Dokument der Gefangenen“, das von Marwan Barghuti und den Führern der Hamas in einem israelischen Gefängnis unterzeichnet wurde, könnte die Grundlage für einen Dialog zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde bilden. Jetzt sind wir diejenigen, die sich weigern, einen solchen Dialog zu führen, weniger aus politischer Klugheit als vielmehr aus einem Gefühl der Überlegenheit und des Machtbewusstseins heraus. Es war unsere militärische Reaktion auf die Entführung von Gilad Shalit, die den Extremisten in der Hamas in ihrem Kampf mit den Moderaten Auftrieb gegeben hat, statt das Gegenteil zu bewirken. Wo liegt da die Logik?

Mit dem palästinensischen Volk müssen wir einen schmerzhaften, aber notwendigen Kompromiss darüber finden, wie wir dieses Land aufteilen. Ein Kompromiss kann nur durch Dialog erreicht werden. Fast jedes Kind in Palästina und Israel kennt die Natur dieses Kompromisses: Rückkehr zu den Grenzen von 1967, mit leichten Veränderungen, zwei Staaten mit der Hauptstadt in Jerusalem sowie eine schrittweise, systematische Lösung des Problems der palästinensischen Flüchtlinge, dazu gehört, dass Israel seinen Anteil an der Entstehung dieses Problems anerkennt. Darüber verständigte man sich 2001 in Taba, das wurde 2002 von der Arabischen Liga vorgeschlagen, und das ist auch die Grundlage des jüngsten Gefangenenpapiers. Durch einen Kompromiss werden die Palästinenser aus dem bedrohlichen Gleichgewicht der Kräfte in unserer Region gezogen, unter dem sie genauso leiden wie wir.

Es könnte sein, dass, wenn die Militäroperationen erst einmal vorüber sind, wir es mit einer palästinensischen Regierung zu tun haben, die zu so einem Kompromiss bereit ist. Die Frage wird dann sein: Gibt es eine israelische Regierung, die in der Lage ist, in solch einen Verhandlungsprozess einzutreten? Im Moment sieht es nicht danach aus. Mit dem Rückzug aus dem Libanon und aus Gaza hat Israel versucht, zu einem internen Konsens der Rechtmäßigkeit zurückzufinden, der durch die lange Besatzung von Land, das uns nicht gehört, behindert wurde. Die Tatsache, dass Israel jeden Zentimeter dieser Territorien zurückgab, gemäß internationalem Recht, gab uns wieder dieses Gefühl der Rechtmäßigkeit zurück, in unseren Augen und denen der internationalen Gemeinschaft. Wir haben dieses Gefühl so sehr geliebt, dass wir es auch auf die Westbank anwenden und uns hinter einer 8 Meter hohen Mauer verschanzen wollten. Das war das Mandat, das die Kadima-Partei in den letzten Wahlen vom israelischen Volk bekommen hat. Der Premierminister proklamierte sogar, dass wenn dies erst einmal vollbracht wäre, Israel ein Staat sein würde, in dem es Spaß machen würde zu leben.

Die Hisbollah ist nicht die Hamas. Mit der Hamas muss einKompromiss gefunden werden

Aber in diesem „sauberen“ Prozess vergaß man wohl, dass es da noch andere Leute gibt mit ihren eigenen Bedürfnissen, Schmerzen und Gefühlen der Rechtmäßigkeit und der Macht. Die ganze Zeit spielten wir Schach mit uns selbst, ohne die andere Seite ein Wort mitreden zu lassen, da „niemand da ist, mit dem wir sprechen können“ und sie „sowieso keine andere Sprache als Gewalt verstehen“. In diesem Sinne waren die Kassam-Raketen aus dem Gaza-Streifen eine unerfreuliche Erinnerung daran, dass da noch andere Menschen sind. Wer nicht mit ihnen reden will, wird weiter Raketen und entführte Soldaten bekommen. DAN BAR-ON

Übersetzung: Daniel Bax