Nur die Puppen blieben jung

GESCHÄFTSWELT Zuletzt war es ein Anachronismus zwischen Billigtextilkette und türkischem Imbiss: Das „Kleine Modehaus“ am Kottbusser Damm schließt nach 40 Jahren

VON GUISEPPE PITRONACI

Kennt noch jemand die Bader-Kataloge? In den 70er Jahren in Westdeutschland haben Tanten darin geblättert, um Mode zu bestellen. Faltenröcke, Blusen mit Blumenmuster, Hosen mit Bügelfalte. Stellen wir uns so einen Bader-Katalog – den es übrigens immer noch gibt – hoch wie ein Zimmer vor und dreidimensional, sodass man reingehen kann. So ungefähr war das, wenn man das „Kleine Modehaus“ betrat.

Der Einraumladen am Kottbusser Damm öffnete 1967, Inhaber Heinz Fuhrmann war da 30 Jahre alt. „Der Kottbusser Damm war wie ein zweiter Kurfürstendamm“, sagt er. Nicht so mondän zwar, aber mit Boutiquen, Kinos und Gaststätten, von denen er einige aufzählen kann. In sein Modehaus kamen viele junge Frauen.

Jetzt sitzt Fuhrmann in seinem Laden zwischen fast leeren Konfektionsstangen. Samstag schließt er. Jünger als 73 sieht er aus, und er hätte weitermachen können: „Wir hatten viele Kundinnen, bis zuletzt.“ Aber zwei wichtige Fabrikanten seien weggebrochen. Haben einfach aufgehört zu produzieren. Es war Kleidung, die es in den großen Kaufhäusern nicht gab, sagt Fuhrmann. Geblieben ist Lieferant Gerry Weber: „Aber das kann man überall kaufen.“

Vitrinen in U-Bahnhöfen

90 Prozent seiner Kundinnen kamen nicht aus der Umgebung, schätzt der Ladeninhaber. Der Katalog, der über das „Kleine Modehaus“ informierte, war in ganz Berlin verstreut: Es gab Vitrinen in bis zu 15 U-Bahnhöfen, wo Fuhrmann Mode ausstellte. Hier ein leuchtend roter Pullover, daneben eine Strasskette, dort eine blumige Bluse. Die Kleidung sah aus, als steckte ein unsichtbarer platter Mensch darin. Dazu ein künstlicher Blumenstrauß. Kleine Schilder, handgeschrieben: Kleid, Viscose, 49 Euro. Kette 5 Euro. Da, wo normalerweise der Kopf einer Schaufensterpuppe wäre, steckten bunte Bilder. Da sah man Frauen um die 40 mit Kleid und roter Jacke vor sonnigen Strandpromenaden gehen.

Die Kundinnen waren älter. Sie sind mit älter geworden seit den 70er Jahren. Kundinnen, von denen die ein oder andere sogar geweint haben soll, als sie hörte, dass der Laden schließt. „Wir wussten, was sie wollten, und haben sie gut beraten. Und wir haben auch mal gesagt, wenn was nicht passte. Das gibt’s heute doch nur noch in so ’nem kleenen Laden wie unserem“, sagt Fuhrmann, gebürtiger Neuköllner. In den großen Kaufhäusern heute sei die Mode und Präsentation dunkel, düster, roboterhaft, wie er es nennt. Und es klingt wie der bekannte Kulturpessimismus, der dadurch entsteht, dass das Alter uns immer mehr von der Gegenwart entfremdet.

Die Gegend um den Kottbusser Damm hat sich auch sehr geändert. Das Wort „Istanbul“ fällt, aber auch die jungen Designer und Cafés hat Fuhrmann bemerkt. „Es ist eine eigene Welt“, sagt er. Und: „Es hat mit uns überhaupt nichts zu tun.“

Anfragen per Telefon

In seiner Welt, da haben Frauen im U-Bahnhof Gesundbrunnen einen Pullover gesehen, der ihnen gefiel. In der Vitrine ein kleines Schild: „Wir reservieren für Sie“, mit Telefonnummer. Am Telefon konnte man fragen, ob die eigene Größe noch da war – man sollte nicht vergeblich zum Kottbusser Damm fahren.

Die Vitrine im U-Bahnhof Schönleinstraße sieht aus wie die Schaufensterkästen auf dem Bürgersteig vom Ku’damm. Sie ist jetzt neu vermietet, an den 29-jährigen Modemacher Philippe Werhahn, der um die Ecke vom „Kleinen Modehaus“ eine „Klamotten-Galerie“ eröffnet hat. Er näht aus altem Stoff neue Kleidung, seine Labels heißen Tingding und Kollateralschaden. Mit dem bisherigen Vitrineninhalt konnte er wenig anfangen, „eine andere Zielgruppe“, wie er sagt. Aber die Vitrine selbst findet er „genial – eine schöne alte klassische Werbemethode“.

Bisher werden die meisten U-Bahn-Fahrer die Vitrinen nicht beachtet haben. Die Damen, die davor stehen blieben, die nicht gern in die großen Kaufhäuser gehen und lieber am Kottbusser Damm anriefen: eine winzige Minderheit. Aber unbewusst werden vielleicht sehr viel mehr Menschen die Fotos mit den Frauen vor den Strandpromenaden und die Viskosekleider und die Kunstblumen vermissen. Es ist, wie wenn ein Museum schließt, wo ein Stück westdeutsche Kindheit konserviert war.

■ „Kleines Modehaus“, Kottbusser Damm 88. Geöffnet bis 18 Uhr, Samstag letzter Tag bis 14 Uhr