Massaker im Morgengrauen


AUS NEUKIRCHEN-VLUYNHOLGER PAULER UND
ALEXANDER FLORIÉ

Zwei Weltkriege hatte der mächtige Baum überstanden. Wie in den Siebzigerjahren die Plattenbauarchitektur des funktionalen Vluyner Platzes und die zahlreichen Volksfeste und Karnevalsumzüge in Neukirchen-Vluyn, bei denen die alkoholgeschwängerten Massen ihren unaufhaltsamen Druck am Stamm entluden. Doch gestern war es dann vorbei. Die mehr als 200 Jahre alte Zeder im Zentrum des Ortsteils Vluyn wurde in den frühen Morgenstunden unter dem Rattern der Kettensägen gefällt. Die 30.000 Einwohnerstadt am linken Niederrhein ist seit gestern um eine ihrer wenigen Attraktionen ärmer.

An Stelle des Baumes soll nun ein sechsstöckiges Wohn- und Geschäftsgebäude entstehen – höher als der Turm der evangelischen Dorfkirche. Der örtliche Bäcker, der seinen Laden am Vluyner Platz betreibt, hatte am 21. Juni bereits das Okay aller Ratsfraktionen für sein Bauvorhaben erhalten. Rot, Grün, Schwarz und Gelb nickten den Plan ab. Lediglich die Ratsfraktion „NV Auf geht‘s“, wie in anderen Kommunen auch in Vluyn von der maoistischen MLPD dominiert, setzte sich an die Spitze der nun gescheiterten Protestbewegung.

In einer konzertierten Aktion rückte gestern in den frühen Morgenstunden eine Gartenbaufirma dem alten Baum zu Leibe. Zur Überraschung aller Beteiligten. Ein Antrag vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf, das Fällen der Bäume per einstweiliger Verfügung zu verbieten, war abgelehnt worden, „weil die Zeder nicht unter Naturschutz steht und keine Beeinträchtigung der Anwohnerbelange“ darstelle.

Für den morgigen Samstag war dennoch ein Schlichtungstermin zwischen Investor und Bürger angesetzt. Bäcker Werner von Hagen habe der Bürgerinitiative versprochen, den Baum nicht fällen zu lassen, bevor die Gespräche beendet seien, sagte der als Schlichter eingesetzte Rechtsanwalt Wolfram Tacke noch am Mittwoch.

Boykott gegen den Bäcker

Gestern war das Versprechen hinfällig. „Und da kommt die Firma Plass und die andere Firma, stürzen sich mit der Kettensäge da drauf und machen die Zeder lebensuntauglich – soviel zum Thema Wort halten“, sagte Klaus Wallenstein von der Wählergemeinschaft „NV Auf geht‘s“. Vier Aktivisten blieben auf der öffentlichen Fläche unter dem Baum stehen und wurden später von einem halben Dutzend Polizisten von dort weg begleitet.

Seit dem Ratsbeschluss vor vier Wochen formierte sich der Protest zur Erhaltung des Baumes. Bürger, Geschäftsleute, der renommierte Städtebauexperte Roland Günter aus der alten Industriesiedlung Oberhausen Eisenheim und auch die evangelische Kirchengemeinde schlossen sich der Bewegung an. Die Protestanten fürchteten um das Alleinstellungsmerkmal ihres Kirchturms; der Kölner Dom lässt grüßen.

„Vor 50 Jahren stand er hier im Garten des Gasthauses Bruckhaus und drumherum haben wir getanzt“, sagte der Uhrmacher Han Rebbelmund mit belegter Stimme. Doch es ging nicht nur um die Zeder. Heinz Klucken, ehemaliger Chef des städtischen Grünflächenamtes, meldete ernsthafte Bedenken an. „Die Bäume sind über 200 Jahre alt. Die dürfen nicht fallen.“ Neben der Zeder steht noch eine alte Blutbuche, die allerdings nicht direkt von den Fällaktion betroffen ist – scheinbar. „Beide Bäume bilden eine Symbiose durch das Wurzelwerk im Boden. Wenn der eine Baum fällt, dann wird der andere das nicht überleben“, ahnt Heinz Klucken.

Klucken ging sogar soweit, dass er zum Boykott gegen die Bäckerei von Hagen aufrief. Nicht ohne Folgen. Während in den anderen Geschäften der Betrieb weiterlief, herrschte im Ladenlokal des alteingesessenen Bäckers gähnende Leere. „So schnell wurden wir hier noch nie bedient“, sagte eine ältere Frau. Sie versteht die ganze Aufregung nicht. „Dem Platz kann das doch nur gut tun“, sagte sie.

Der Vluyner Platz wurde in den frühen Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts schnell und lieblos aus dem Boden gestampft. Dreistöckige Plattenbauten, Ladenlokale im Erdgeschoss, darüber zwei Wohnetagen – grau, beige, weiß. Für diese Zweckbauten wurde der idyllische Ortskern der zweigeteilten ehemaligen Zechenstadt zerstört. Südlich der Niederrheinallee, der Hauptstraße, die das Ruhrgebiet mit der niederländischen Grenze verbindet, wurden alle alten Häuser abgerissen, nördlich durften sie stehen bleiben, einschließlich der 600 Jahre alten Kirche. Die Stadtväter träumten von einem kleinen, feinen Einkaufszentrum für die Einheimischen. Richtig glücklich wurden die Vluyner mit dem künstlichen Gebilde allerdings nie. Bis heute überlebten nur der örtliche Metzger und eben die Bäckerei von Hagen.

Der Moderne geopfert

Die Stadt Neukirchen-Vluyn hat sich aus dem Konflikt herausgehalten. „Wir haben die Baugenehmigung erteilt. Es lag beim Besitzer, wann es zum Fällen kommt. „Ich hab es gestern Abend erfahren“, sagte Bauamtsleiterin Ingrid Otte. Die Zeder sei „geopfert“ worden, damit dort wirklich ein besonderes Bauobjekt entstehe. „Das erwarten wir jetzt auch.“

Die Bürger sind dennoch sauer. „Ich werd mich aus meiner Partei und anderen Institutionen rausziehen“, meint CDU-Mitglied Rolf Ramacher. „Die haben Vluyn einen Bärendienst erwiesen.“ Abartig und geschmacklos sei die Aktion. „Bei den Wahlen in drei Jahren werden die das merken, was sie da entschieden haben“, sagte ein anderer Mann. „Es ist eine Schande, so was Wunderschönes einfach abzuholzen“, meinte eine ältere Frau unter Tränen. Bäcker Werner von Hagen war gestern zu einer offiziellen Stellungnahme nicht bereit. Obwohl er die Fällaktion vor Ort beobachtete.

Noch am Dienstag war die Übergabe von 400 Protest-Postkarten an den Bäcker gescheitert; von Hagen war offiziell nicht im Haus. Dennoch hofften die Bürger darauf, dass es zu einer einvernehmlichen Lösung kommen würde. Sie hatten Wachschichten an der Zeder eingerichtet. Täglich von sechs bis 22 Uhr.

Klaus Wallenstein von „NV Auf geht‘s“ hatte gehofft, dass das Bollwerk allenfalls von der Polizei geräumt werden könne. Am Dienstag morgen noch sei Werner von Hagen zu ihm gekommen und habe ihm gesagt, die ganze Sache gehe ihm an die Nieren, der Umsatz sacke in den Keller. „Wir werden einen Güteversuch anstreben, wenn er Frieden haben will“, habe Wallenstein darauf hin geantwortet. Den Frieden hat von Hagen mit seinen Mitteln hergestellt. Dafür werden die Bürger beim Kauen ihrer Brötchen nun einen leichten Zedergeschmack spüren.