Crashkurs in Sachen Deutschland

In „Integrationskursen“ lernen Ausländer auf Staatskosten die Grundregeln der deutschen Sprache – und der Gesellschaft. Die meisten besuchen die Kurse freiwillig. Doch integriert sind sie damit noch längst nicht: Ihnen fehlen die Kontakte zu Deutschen. Ein Besuch in einem Bremer Integrationskurs

Die VHS-Lehrerin Regine Köhler: „Frauen haben ein größeres Interesse als Männer, die Sprache zu lernen“

von Eiken Bruhn

Zwei Frauen blicken lachend in die Kamera, in der Hand eine Zigarette und eine Flasche Bier. Auf einem zweiten Foto steht ein Mann am Herd und kocht. „Was denken Sie über die Bilder?“, fragt Regine Köhler, Lehrerin für Deutsch an der Bremer Volkshochschule. 25 Köpfe beugen sich über die kopierten Lehrbuchseiten, überschrieben mit „Kultur / Frauen und Männer“. „Sagen Sie einfach ganz spontan, was Ihnen durch den Kopf geht“, fordert Regine Köhler ihre erwachsenen Schülerinnen und Schüler auf. Diese kommen aus Russland, der Türkei, Vietnam, dem Iran und einem weiteren halben Dutzend nah- und fernöstlicher Länder und dürfen als Ausländer mit dauerhaftem Aufenthaltstitel den so genannten Integrationskurs besuchen. Die Antworten auf Köhlers Frage kommen zögernd. „In Sri Lanka kochen nur Frauen“, sagt eine Frau. Eine Vietnamesin kichert, als sie erzählt, dass in ihrer Familie ihr Vater gekocht hat.

Matthew Akande, ein Arzt aus Nigeria ist der erste, der das Gezeigte bewertet. „Hausmann zu sein, das finde ich für mich nicht in Ordnung“, sagt er, der mit einer deutschen Frau verheiratet ist. Das andere Bild jedoch, die beiden trinkenden Frauen, „das gefällt mir, es bedeutet Freiheit für die Frau, sie kann dasselbe machen wie der Mann“. Sabiha Al-Tabalabaie, die von der Kursleiterin als nächste angesprochen wird, schildert den Ist-Zustand im Irak. „Frauen dürfen bei uns nicht wie Männer draußen sitzen und trinken, nicht einmal Saft“, erzählt die Bauingenieurin, Designerin und „Business-Woman“, die sich bei ihrer Ankunft in Bayern vor drei Jahren mit einem Mitarbeiter des Ausländeramtes anlegte, weil der sich weigerte, Englisch mit ihr zu sprechen. Es wird nicht klar, wie sie selbst zu dem Bild steht, ob es ihr lieber wäre, wenn sie in der Öffentlichkeit einen Saft trinken könne.

Regine Köhler belässt es dabei. Sie bohrt nicht nach, ob sich in dem Kurs nicht vielleicht doch Personen verstecken, die Frauen am liebsten ins Haus verbannen würden. Wahrscheinlich würde sie in dieser Gruppe auch niemand finden. Und selbst wenn – was sollte sie tun? Sich den Mund fusselig reden, sie oder ihn beim Verfassungsschutz melden? „Nein“, sagt sie, „man kann nur Meinungen austauschen, mehr ist nicht drin“. Dabei entzünden sich Diskussionen selten an weltanschaulichen Fragen, eher wird über Persönliches diskutiert. Etwa, ob es bedenklich ist, wenn man die eigenen Kinder mehr liebt als den Ehemann.

Doch wenn eine Frau erzählt, ihre Tochter dürfe erst nach der Heirat mit einem Mann schlafen, mit der Begründung „Das ist unsere Kultur“, fragt Köhler nach. „Wessen Kultur? Welcher Kultur gehören Ihre Kinder an?“ Fast alle Kursteilnehmerinnen haben Kinder, viele sind in Deutschland geboren. Wie Deutsche aufwachsen sollen sie trotzdem nicht, finden die meisten. Ihrer Tochter habe sie erklärt, dass sie Tops mit Spaghettiträgern nur tragen kann, bis sie zwölf oder 13 Jahre ist, erzählt Sabiha Al-Tabalabaie, die selbst modisch gekleidet ist. „Wenn sie älter ist, wird sie mich verstehen.“ Eine eindeutige Antwort auf Köhlers Frage gibt es nicht, aber eine pragmatische. „Ich nehme aus jeder Kultur das Beste“, sagt eine Chinesin. Die anderen lachen und stimmen ihr zu. Auch die deutsche Lehrerin: „Ich finde das gut, wenn sie mischen, sie sollen ja nicht überangepasst sein.“

Nicht immer geht es so harmonisch zu. Neulich zum Beispiel hatte sie in einem anderen Kurs eine Diskussion über Homosexualität, erzählt Köhler. „Das war furchtbar.“ Ein Türke war überzeugt, dass gleichgeschlechtliche Liebe krankhaft sei, abnormal, widerwärtig. Köhler versuchte zu diskutieren. „Was wäre, wenn Ihr Sohn nach Hause käme und sagen würde ‚Papa, ich bin schwul‘?“, fragte sie den Mann. „Dann ist er nicht mehr mein Sohn.“ Köhler war sprachlos. „Ich möchte das Thema in nächster Zeit erst einmal nicht mehr ansprechen.“

Seit 1976 unterrichtet sie Deutsch als Fremdsprache – und mittlerweile auch deutsche Gesellschaft. Laut der von der Bundesregierung erlassenen „Verordnung über die Durchführung von Integrationskursen für Ausländer und Spätaussiedler“ schließt sich an die 600 Stunden Spracherwerb ein Orientierungskurs von 30 Stunden an. Das Ziel der mit dem neuen Zuwanderungsgesetz am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Verordnung: Nichts weniger als die „Vermittlung von Alltagswissen sowie von Kenntnissen der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte in Deutschland, insbesondere auch der Werte des demokratischen Staatswesens der Bundesrepublik Deutschland und der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit“.

Wie genau diese Aufgabe zu bewältigen ist, will die Bundesregierung bis Ende des Jahres klären. Derzeit ist es den Anbietern überlassen, was sie im Orientierungskurs machen. Köhler und ihre Kollegen haben sich darauf geeinigt, dass sie den Neu-Deutschen vor allem praktische Hilfen an die Hand geben: Welche Behörde ist für was zuständig, wo bekommen sie Hilfe.

Was die Integrationskurse allerdings nicht bieten können: die Integration. Für die braucht es mehr als die Grundkenntnisse in deutscher Grammatik und einen Crashkurs in deutschen Gepflogenheiten. Necla Bilgili etwa gehört zu den wenigen im Kurs, die länger als ein oder zwei Jahre in Deutschland leben. Sie kam schon vor neun Jahren aus der Türkei, ihre beiden Töchter sind hier geboren. Kontakte zu Deutschen habe sie nicht, sagt die zurückhaltende 30-Jährige, die sich im Unterricht nur auf direkte Ansprache meldet. Gerne würde sich die Hausfrau zumindest mal mit den Nachbarn unterhalten oder sich bei den Elternabenden mit ihrem Mann abwechseln. Den Kurs mache sie erst jetzt, weil ihre Kinder vorher zu klein waren. Immer wieder entschuldigt sie sich dafür, dass sie nachfragen muss, wenn sie etwas nicht verstanden hat und dafür, dass sie nach Worten suchen muss, bevor sie einen Satz vollendet. „Ich spreche die Sprache nicht gut.“

Ihre Lehrerin schaltet sich ein. „Das große Problem ist, dass die meisten nur im Kurs Deutsch sprechen.“ Sicherer würden sie erst, wenn sie auch im Alltag üben könnten, in Gesprächen, doch dafür fehlen ihnen wiederum die Kontakte – die sie leichter bekämen, wenn sie die Sprache besser beherrschen würden. Köhler rät Necla Bilgili deshalb, noch einen weiteren Kurs zu besuchen – den sie allerdings selbst bezahlen müsste. Bisher galten 600 Stunden als ausreichend, um Ausländer auf den deutschen Arbeitsmarkt vorzubereiten, mittlerweile fordern auch konservative Politiker eine Aufstockung. Auch Köhler hält das für dringend notwendig: „200 Stunden mehr wären schon gut.“

In ihrem Kurs wären wohl die meisten begeistert, wenn sie weitermachen könnten. „Ich liebe Unterricht, weil ich jeden Tag neue Worte lerne“, sagt eine junge Türkin mit Kopftuch auf die Frage, was für sie Liebe ist. Fast alle sind wie sie freiwillig hier, diejenigen, die vom Amt geschickt werden, sind in der Regel Männer. „Frauen haben ein größeres Interesse, die Sprache zu lernen“, ist Köhler überzeugt. Je höher die Schwierigkeits-Stufe, desto weniger Männer seien in den Kursen. „Vielleicht sind sie einfach zu faul.“

An diesem Vormittag sind drei Männer gekommen, einer macht zwischendurch den Eindruck, als würde er gleich auf dem Tisch einschlafen. Doch jetzt schreckt Köhler ihn auf. Sie hat Lehrbuch-Fotokopien verteilt: „Mehrheit und Minderheit / Rollen“ steht auf dem Seitenkopf. Seine Mitschülerinnen haben gerade darüber gestritten, ob die alte Staatszugehörigkeit eine Rolle ist oder nicht und ob Berufe zählen, in denen sie in Deutschland nicht arbeiten können. „Was ist Ihre Rolle?“, fragt Köhler den jungen Türken. „Ich bin ein Ausländer“, antwortet er.