Reine Augenwischerei, keine Abschreckung

JUGENDGEWALT Obwohl von Minderjährigen verübte Gewalttaten rückläufig sind, will die Bundesregierung das Jugendstrafrecht verschärfen. Opposition und Fachleute kritisieren das Vorhaben

Ambulante Maßnahmen, intensive Beratung und Begleitung sind viel erfolgreicher

VON OLE SCHULZ

Union und FDP haben sich in ihrem Koalitionsvertrag auf eine Verschärfung des Jugendstrafrechts verständigt. Neben der Einführung des sogenannten Warnschussarrests soll die Höchstjugendstrafe bei Mord von 10 auf 15 Jahre erhöht werden. Doch die Vorhaben stoßen bei der Opposition wie in Fachkreisen auf Kritik.

Laut Berlins Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) ist etwa die geplante Anhebung auf eine Höchststrafe von 15 Jahren Freiheitsentzug „reine Augenwischerei und dient nicht der Abschreckung“. Jugendliche Gewalttäter würden spontan handeln und bei der Tatbegehung nicht an die möglicherweise zu erwartende Strafe denken, sagte sie bereits Ende vergangenen Jahres.

Zuletzt waren es mit Drogen dealende Kinder mit Asylbewerberstatus in Berlin, durch den der schwelende Grundsatzstreit über den Umgang mit minderjährigen Straftätern hochkochte: Neben dem Berliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD) forderten auch mehrere Innenminister CDU-regierter Bundesländer die Unterbringung minderjähriger Dealer in geschlossenen Heimen. Doch der Vorschlag scheint innerhalb des rot-roten Senats keine Chance zu haben: Es handele sich um Einzelfälle, statt auf Wegsperren hinter Mauern setze man auf „intensive Betreuung“, hieß es aus der Justiz- und Bildungsverwaltung.

Auch der Berliner Strafverteidiger Ulrich von Klinggräff hält die Debatte um Reformen im Jugendstrafrecht für Panikmache: „Je drastischer die Strafen sind, desto höher ist die Wiederholungsgefahr“, fasst der Anwalt den Stand der Forschung zusammen. Doch obwohl im Jugendstrafrecht zu Recht der Erziehungsgedanke und nicht Vergeltung im Mittelpunkt stehe, liege eine Strafverschärfung „schon lange in der Schublade der Law-and-order-Politiker“, so Klinggräff.

Sein Berliner Kollege Udo Grönheit spricht von Ängsten, die mit dem Reizthema Jugendgewalt bewusst geschürt würden. Für Grönheit ist „unsere gewaltgeprägte Gesellschaft“, die auf Anpassung und Gehorsam aufbaue, der Ausgangspunkt des Problems. Es werde zu wenig auf Konsens gesetzt und stattdessen „bereits bei kleinsten Vergehen mit Strafen gedroht“. Für ein gewaltfreies Gegenmodell müsse man auch eine Institution wie die Bundeswehr abschaffen. „Gewalt ist die letzte Zuflucht des Unfähigen“, zitiert Anwalt Grönheit den Schriftsteller Isaac Asimov. Einen 14-Jährigen zu 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilen zu wollen sei völlig unsinnig, sagt Grönheit. Noch absurder werde es, wenn man bedenke, dass die Jugendgerichte schon heute den bestehenden Strafrahmen kaum ausschöpften.

Dabei lässt sich die vielfach beklagte Zunahme der Gewaltbereitschaft Jugendlicher statistisch kaum belegen. Im Gegenteil: Die Kriminalitätsstatistik weist in Deutschland seit Jahren eine rückläufige Tendenz auf. Das gilt auch für Berlin: Sowohl im Bereich der Jugendkriminalität insgesamt als auch bei den von Jugendlichen verübten Gewaltdelikten sind die Zahlen seit Jahren rückläufig. 2009 waren es so wenig Fälle wie nie zuvor.

Dass in den Medien dennoch das Bild von jugendlichen Horden, vorrangig ausländischer Delinquenten, vorherrscht, die zunehmend brutaler vorgehen, daran hat auch die Jugendrichterin Kirsten Heisig mitgewirkt. In Zeitungsartikeln und Fernsehsendungen wiederholte Heisig regelmäßig ihre Horrorszenarien, die, gewollt oder ungewollt, auch ausländerfeindliche Vorurteile bedienten, wenn sie etwa eine angebliche „unverblümte Deutschenfeindlichkeit“ bei vielen nichtdeutschen Gewalttätern ausmachte.

Ende Juni hat Heisig nun überraschend Suizid begangen. Die Gründe ihres tragischen Freitods sind bis heute nicht genau bekannt. In dieser Woche ist posthum ihr Buch „Das Ende der Geduld“ erschienen, in dem Heisig das von ihr entwickelte „Neuköllner Modell“ beschreibt.

Ziel dieses Ansatzes, der seit Januar 2008 zunächst im Neuköllner Rollbergviertel praktiziert wurde, ist es, durch eine engere Zusammenarbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendgerichtshilfe und Jugendrichtern minderjährige Straftäter nicht erst Monate später, sondern bereits wenige Wochen nach ihren Vergehen abzuurteilen. Seit diesem Sommer wurde dieses „vereinfachte Jugendverfahren“ auf ganz Berlin ausgeweitet.

Obwohl eine Evaluation dieses beschleunigten Strafverfahrens noch aussteht, glaubt auch Strafverteidiger Ulrich von Klinggräff, dass es „durchaus Sinn macht, wenn eine Sanktionierung einer Straftat schnell erfolgt“ – gerade bei Jugendlichen. Doch andererseits könne man gesellschaftliche Probleme, betont von Klinggräff, nicht allein mit den Mitteln des Strafrechts lösen. Dass etwa gerade bei den jugendlichen „Intensivtätern“ eine deutliche Mehrheit einen Migrationshintergrund habe, könne man „nicht abstrahiert von den sozialen Bedingungen sehen“. Ulrich von Klinggräff erläutert das am Beispiel der staatenlosen Palästinenser: Diese hätten lange „perspektivlos am Rande der Gesellschaft“ leben müssen ohne ein Recht auf Ausbildung oder Arbeit. Mit Kettenduldungen sei ihnen das Leben schwer gemacht worden, heute noch hätten viele von ihnen eine „Aufenthaltserlaubnis niedrigster Klasse“. Dabei ist laut von Klinggräff eine „vernünftige Integrationspolitik die beste Gewaltprävention“.

Je drastischer die Strafen sind, desto höher ist die Wiederholungsgefahr

Die schwarz-gelbe Regierungskoalition setzt dennoch auf härtere Strafen. Dazu gehört auch die geplante Einführung des „Warnschussarrests“. Bisher kann ein Jugendlicher, der zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wird, nicht gleichzeitig in Arrest genommen werden. Künftig soll eine Kombination von bis zu vier Wochen Arrest und Jugendstrafe auf Bewährung möglich sein.

Dass eine solche Maßnahme Sinn mache, wird von vielen betroffenen Berufsverbänden bezweifelt. Laut dem Deutschen Anwaltvereins (DAV) spricht allein eine hohe, bei 70 Prozent liegende Rückfallquote bei stationären Sanktionen dagegen. Ambulante Maßnahmen als auch intensivierte Beratung und vermehrte Begleitung seien empirischen Studien zufolge wesentlich erfolgreicher. Der DAV fordert deshalb, die ambulante Praxis im Rahmen der Bewährungs-hilfe zu stärken und generell die wachsende Armut, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und psychische Probleme junger Menschen politisch zu bekämpfen.

Auch die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ) hält den Warnschussarrest wie die Erhöhung der Jugendstrafe auf 15 Jahre für Schritte in die falsche Richtung. Bereits vor zwei Jahren hatte der DVJJ eine von fast 1.000 Hochschullehrern und Praktikern der Jugendgerichtspflege unterzeichnete Resolution gegen eine Verschärfung des Jugendstrafrechts verfasst. Demnach widerspreche die Annahme, harte Strafen schreckten stärker ab, „sämtlichen vorliegenden empirischen Erkenntnissen der Kriminologie“.

Die CDU/CSU-FDP-Regierung zeigt sich vom Stand der wissenschaftlichen Forschung unbeeindruckt. Weil auch die Liberalen in der Rechtspolitik in atemberaubender Geschwindigkeit auf konservative Positionen umschwenken, ist für die nächsten Jahre nichts Gutes zu erwarten.