Werdet wie die Kühe!

AUSSTELLUNG Die Fotokünstlerin Ursula Böhmer zeigt im Museum Neukölln Porträts von Kühen aus 25 europäischen Ländern – eine Begegnung auf Augenhöhe

VON HELMUT HÖGE

„Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und liegen wie Kühe auf der Wiese“, versicherte uns Nietzsche, und riet: „Werdet wie die Kühe!“ Ähnlich dachte der Kuhforscher Robert W. Hegner, indem er diese Wiederkäuer als Spitze der evolutionären Säugetierentwicklung begriff, weil ihr Verdauungssystem weiter als das menschliche Gehirn spezialisiert sei. Die Verdauungsorgane der Rinder, vor allem ihr Pansen, sind derart voll mit zelluloseabbauenden Bakterien, dass man mit der Molekularbiologin Lynn Margulis über diese sogar sagen kann: „Sie sind die Kuh.“ Das Nachdenken über das Nutztier hat inzwischen ein ganzes Genre hervorgebracht: Kuh-Bücher.

Rechtzeitig zur Eurokrise veröffentlichte die Fotokünstlerin Ursula Böhmer Porträts von Kühen aus 25 europäischen Ländern: „All Ladies“ nannte sie diese Serie, die derzeit im ehemaligen Pferdestall des Britzer Schlosses, heute: Museum Neukölln, zu sehen ist. Flankiert wird die Ausstellung von drei Vorträgen über Kühe, einen Dokumentarfilm über Kuhkämpfe in der Schweiz, einem Konzert mit europäischen „Hirtenliedern“ und einem italienischen Vorschlag zur Lösung der „europäischen Krise“ von Angelo Bolaffi.

Zuvor waren bereits zwei Bücher über das Oeuvre professioneller Kuh-Fotografen veröffentlicht worden: über den Simmentaler Arthur Zeller (1881–1931) und über den mit Photoshop arbeitenden Wolfhard Schulze aus Niedersachsen. Bei den Arbeiten dieser Photographen standen die ästhetischen Wünsche der Kuhhalter beziehungsweise der Agrarpresse im Vordergrund. Ursula Böhmer geht es dagegen um die Kuh an und für sich. Da die Haltung dieses Tieres inzwischen „durchgängig industrialisiert“ ist, regt sie „mit ihren Fotografien unmissverständlich dazu an, ihm mit Achtung und auf Augenhöhe entgegenzutreten,“ wie es auf der Einladung zur Ausstellung heißt.

Die Neuköllner Bezirksstadträtin für Kultur, Franziska Giffey, schlug von da aus in ihrer Eröffnungsrede einen Bogen zum Problembezirk Neukölln, indem sie betonte, wie wichtig es sei, dass die Stadtkinder diese Fotos von unserem ältesten und wichtigsten Haustier sehen, und wie notwendig ein Umdenken ist – und Nachdenken darüber, wo das Fleisch eigentlich herkommt: eine Diskussion, die mit den Bioläden auch in Neukölln geführt werde. Mancher sage zwar, der Boom der Bioläden sei bloß eine Folge der Gentrifizierung, „aber trotzdem“. Die von Ursula Böhmer „menschlich porträtierten Kühe“ würden außerdem ein „anderes Bild von Europa“ vermitteln.

Eine die namensgebende Gestalt der europäischen Kulturgeschichte ist die phönizische Europa, die von Zeus in Gestalt eines Bullen ent- und verführt wurde, zu sehen war sie etwa auf unserem 5-DM-Schein und hunderten, oft halbpornografischen Gemälden und Plastiken, wobei die mehr oder weniger nackte Königstochter im Mittelpunkt stand. Auf Ursula Böhmers schwarzweißen und analog fotografierten Bildern stehen nun Vertreter europäischer Kuhrassen im Zentrum, die sich dem Betrachter zugewandt haben – als „Subjekte in einem kommunikativen Prozess, in dem der Blickaustausch zwischen Tier und Mensch zur Hauptsache wird.“ Die Fotografin wolle damit, so der Gastredner Piotr Olszowka von der Slow-Food-Tafelrunde-Berlin, „Ehrfurcht vor dem Willen zum Leben“ wecken; es sei „darin eine vegetarische Lebensweise verankert“.

Damit ründet sich heuer die Rinderwahrnehmung auf dem Gutshofgelände des Britzer Schlosses: Gegenüber der Kuhfotoausstellung im Pferdestall kann man im Restaurant des ehemaligen Kuhstalls Rindfleischgerichte bestellen und im hinteren Teil des Geländes, im Streichelzoo, zwei lebende Rinder anfassen. In Berlin leben nebenbei bemerkt noch 550 Rinder, etwa die Hälfte davon sind Kühe.

■ Die Ausstellung „All Ladies“ ist im Museum Neukölln, Alt-Britz 81, noch bis zum 20. April zu sehen. Den Katalog, erschienen im Verlag Kehrer, hat die Autorin „Yvonne“ gewidmet, einer Simmentaler Kuh, die heute auf dem Gnadenhof Deggendorf lebt