Die Knigge-Frage

Darf man Kinder beim Brettspiel mit Absicht gewinnen lassen?

Um hier gleich mal mit Friedrich Schiller zu kommen: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist“, schreibt der Dichter. „Und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Die Mitglieder meiner Familie sind also in voller Bedeutung des Wortes Mensch an unserem Wohnzimmertisch. Auf dem liegt „Brändi Dog“, ein entfernter Schweizer Cousin von „Mensch ärgere Dich nicht“, bei dem mit Karten statt Würfeln gezogen wird. Sehr spannend und lustig. Gespielt wird in Teams. Und das ist auch gleich das Problem. Denn wir spielen gerade Eltern gegen Kinder. Und weil wir Erziehungsverpflichteten kurz vor dem Triumph stehen, macht meine Frau etwas Seltsames: Sie zeigt unserer Tochter, wie sie einen unserer Steine schlagen kann. Und verzichtet kurz darauf auf einen Zug, der uns den Sieg bringen würde. Warum? „Um es spannender zu machen“, verteidigt sich Mutter Weichherz. „Was soll denn dieser Quatsch?“, wundert sich Vater Eisenhart.

Nur zur Klarstellung: Die Kinder sind zwölf und zehn Jahre alt. Ihre zarten kindlichen Seelen haben schon andere Schicksalsschläge überstanden als eine Niederlage bei „Brändi Dog“. Und selbstverständlich haben wir früher ihre Würfel gezinkt, ihnen heimlich die besten Karten zugeschanzt und dauernd Eigentore geschossen, um ihr Selbstvertrauen zu stärken. Und um uns die ewigen und lautstarken Wutausbrüche zu ersparen, um ehrlich zu sein.

Aber aus den zickigen Zöglingen sind zweifelsfrei Zocker geworden. Heute wacht unsere Tochter über die Einhaltung der Spielregeln wie die Bundesbank über die Stabilitätskriterien für den Euro. Und unser Sohn schlägt Gegner mit einem diabolischen Grinsen wie der Wolf of Wall Street aus dem Feld.

Trotzdem, sagt Mutter Weichherz, darf man schummeln, um die Gegner im Spiel und die Kinder bei Laune zu halten. Der Mensch ist schließlich nur Mensch, wenn er spielt. Mir ist das allerdings zu viel sozialdemokratische Gleichheit auf einem Feld, wo sie nichts verloren hat. Wer spielt, kann verlieren, wenn er Pech hat oder ungeschickt ist. Der Mensch ist nur Mensch, wenn er auch verlieren kann. Wenn er dieses Risiko nicht will, soll er sich irgendwelche Tralala-Games ohne Verlierer suchen. Wer spielt, soll Regeln lernen und respektieren. Wer spielt, hat auch seinem eigenen Team gegenüber eine Verpflichtung. Fair zu spielen heißt auch, zu gewinnen, wenn man besser ist. Wie fände es wohl meine Frau, wenn ihr Schwarm Mats Hummels im Elfmeterschießen im WM-Finale mit Absicht danebenschösse, nur damit die Italiener im Spiel bleiben? Na?

Nicht umsonst hat Schiller, der Großmeister der Spieltheorie, auch „Die Räuber“ geschrieben. Und, wie ich nach einem intensiven familieninternen Dialogprozess erkenne, auch noch dieses andere Werk: „Kabale und Liebe“.

BERNHARD PÖTTER, FAMILIENVATER

Haben Sie auch eine Benimm-Frage? Mail an Knigge@taz.de