Wenn das versprochene Glück ausbleibt

ZERBRECHLICHKEIT Die französische Autorin Pascale Kramer zertrümmert die Illusionen in einer Kleinfamilie: „Die unerbittliche Brutalität des Erwachens“

Finde den „einen“, sei eine gute Ehefrau und Mutter – die Familie ist der Weg zum Glück

Man werfe ihr vor, dass ihre Bücher so düster seien, sagt die 1961 in Genf geborene und in Paris lebende Autorin Pascale Kramer und fährt fort: „Ich glaube aber, dass wir ohne Illusionen leben sollten. Es ist Zeitverschwendung.“ Die mehrfach preisgekrönte Schriftstellerin hat in neun Romanen ihre eigene Art der Illusionszertrümmerung entwickelt; jetzt hat man zum vierten Mal die Gelegenheit, dieser Meisterin der genauen Seelenbeobachtung in deutscher Übersetzung zu folgen.

Pascale Kramer ist interessiert an Konstellationen, in denen Menschen, die sich nahe sind oder dieses doch glauben, sich voneinander entfernen – oft ausgelöst durch ein äußeres Ereignis, wie in „Die Lebenden“, wo der Tod des eigenen Kindes ein Paar durch Schuld verbindet, doch letztlich auseinandertreibt. Kramer zeichnet den Schmerz, seine Intensität, durch kleinste Gesten; sie geht nah an ihre Figuren heran, ohne sie psychologisch auszuanalysieren, und offenbart so den Abgrund zwischen ihnen.

Familien, Paare sind ihre Mikrokosmen, und in „Die unerbittliche Brutalität des Erwachens“ verbinden sich beide, denn aus dem Paar Alissa und Richard wird 2004 eine Familie: Die 27-jährige Alissa ist soeben Mutter einer Tochter geworden – statt Glück hält Verzweiflung Einzug in das neu bezogene Appartement in Los Angeles.

„Alissa konnte nicht begreifen, dass die anderen diesen Schmerz, diesen quälenden Kummer nicht spürten, dass sie leicht und glücklich sein konnten mit diesem Leben in ihren Händen, dieser gierigen, bedürftigen, unbegreiflichen Zerbrechlichkeit.“ Kramer schildert einen inneren Zusammenbruch. Die Erkenntnis der absoluten Abhängigkeit dieses so zerbrechlichen Lebens, dieser existenziellen Verantwortung für ihr Baby überfordert Alissa vollkommen.

In ihrer Verzweiflung steckt ein Narzissmus, der sie nicht gerade sympathisch macht. Sie fühlt sich um ihr Leben betrogen, von den Versprechungen auf ein Glück getäuscht, das ihr doch zusteht – und das sich nicht einstellt, obwohl sie doch alles richtig gemacht hat. Sie hat ihre Studentenliebe geheiratet, Richard ist der Prinz, sie die Prinzessin, „die Schönheit, die liebevoll Umsorgte gewesen“, immer schon. Dieses Gefühl gab ihr auch die Mutter, von der sie sich nun verraten fühlt, wagt diese es doch, ihr altes Leben zu verlassen.

Schön und erschreckend

In immer wieder neuen Formulierungen umkreist Kramer dies: wie spektakulär, wie schön, aber eben auch erschreckend die Existenz eines so auf andere angewiesenen kleinen Menschen ist. Die Ängste, die das auslösen kann, die Zweifel, sind aber hierzulande wie auch in den USA nicht vorgesehen. Frisch gebackene Mütter hat man sich glücklich vorzustellen, müde vielleicht, aber nicht verzweifelt. Kramer geht es dabei nicht um den „Extremfall“ postnatale Depression, sondern um das Naheliegende solcher Empfindungen in einer Situation, die aus sich heraus extrem ist. Sie kontrastiert dies mit der allgegenwärtigen Botschaft, die in den USA noch durchdringender tönt als hier, wo sie aber auch wieder an Attraktivität gewinnt: Finde den „einen“, sei eine gute Ehefrau und Mutter – die Familie ist der Weg zum Glück.

Alissa, bislang ein Leben gewohnt, das ihr kaum Verantwortung abverlangte, hat das geglaubt. Schuld an ihrer doppelten Verzweiflung –die Überforderung plus die Verstörung über das Ausbleiben des Versprochenen –, sind daher die anderen, die Mutter, Richard. Immerhin: Erstmals reflektiert sie ihre Ehe, ist gezwungen, die Mutter als eigenständige Person zu sehen. Ob sich daraus eine produktive Energie entwickeln könnte, lässt Kramer offen. Sie zeichnet das Insichkreisen Alissas, die ihre Gefühle nicht anders als in Taten ausdrücken kann, die die anderen vor den Kopf stoßen. Sie lässt das Baby allein, sie brüskiert die Mutter und Richard.

Blicke, Gesten, Details eines Raumes – es ist dieser präzise Blick, der Kramer auszeichnet. Nie resultiert daraus ein Zuviel, vielmehr ein Verständnis der Figuren, das diese doch nicht ausdeutet. Es entstehen klare Bilder, sei die Seelenlage auch noch so verstörend; hier merkt man Kramer ihre Arbeit als Drehbuchautorin im besten Sinne an.

Die Entfremdung zwischen Alissa und den vertrauten Menschen, zum eigenen Leben, ist umfassend. Kramer konfrontiert sie auf irritierende Weise mit der eines schwerverletzten Irak-Heimkehrers: Eine weitere US-amerikanische Erzählung, die vom Helden, die sich als Lüge erwiesen hat.

CAROLA EBELING

Pascale Kramer: „Die unerbittliche Brutalität des Erwachens“. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Rotpunktverlag, Zürich 2013, 173 Seiten, 19,90 Euro