PRESS-SCHLAG
: Sehnsucht nach dem Führer

RETRORHETORIK ln Hamburg und Hoffenheim erklärt man den Abstiegskampf zur Charakterfrage

Es ist eine bemerkenswerte Renaissance der schlichten Fußballparolen

Die Kunst des Fußballspielens wird überschätzt. Zu diesem Schluss scheint man in Hamburg und Hoffenheim gekommen zu sein. Abstiegskampf ist lediglich eine Frage des Charakters. Da sind sich HSV-Trainer Bert van Marwijk und sein Kollege aus Sinsheim, Markus Gisdol, einig. Sie sind neuerdings zu Vertretern der einfachen Botschaft geworden. Erstaunlich eigentlich – galten doch beide bis zuletzt als Tüftler und Taktikgelehrte. Van Marwijk wurde von der niederländischen Schule geprägt, und Gisdol studierte beim Fußballintellektuellen Ralf Rangnick.

Wenn ihren flammenden Appellen Taten folgen werden, dann muss man am Samstag beim Aufeinandertreffen von Hamburg und Hoffenheim mit einem Hauen und Stechen rechnen. Van Marwijk machte diese Woche klar: „Wir können zehnmal am Tag trainieren, es würde nichts ändern.“ Auf die Einstellung komme es an. Die Mannschaft brauche Typen wie Stefan Effenberg und Lothar Matthäus. Der Holländer räumte ein, er habe bereits an Verstärkung aus der eigenen Familie nachgedacht. Dass sein Schwiegersohn Mark van Bommel seit acht Monaten nicht mehr gespielt hat, hat den Gedanken dennoch nicht ad absurdum führen können. Van Marwijk will einen haben, der Zeichen setzt, der dem Gegner Grenzen aufzeigt. Die rustikale Van-Bommel-Grätsche ist also gefragt. Und für die braucht der Niederländer in der Tat nicht mehr trainieren. So lange die Position des Chefs auf dem Rasen vakant ist, spielen die Trainer den großen Diktator. Van Marwijk drohte: „Wenn einer negativ ist, schmeiße ich ihn raus!“

Auch Gisdol hält sich in diesen Tagen nicht lange mit feinsinnigen strategischen Gedankenspielen auf. Er kündigte mit unverhohlenem Groll an, seine Stammelf verändern zu wollen. Er erklärte kurz und knapp: „Wir brauchen Typen für das Spiel.“

Es ist eine bemerkenswerte Renaissance der schlichten Fußballparolen. Während Vereine wie Freiburg, Augsburg und Mainz unabhängig von ihrer Tabellenlage an ihren flachhierarchischen Kollektivkonzepten feilen, um die individuellen Vorteile der besser besetzten Konkurrenz zu kompensieren, scheinen die mit starkem Personal unterfütterten Klubs im Notfall aus lauter Nervosität auf Eingeübtes zu verzichten, um auf die Erlösung durch Zeichen setzende Führungsspieler zu hoffen.

Möglicherweise ist die altbackene Abstiegskampfrhetorik aber auch zum Ruhigstellen des eigenen, in seinen Ansprüchen enttäuschten Umfelds gedacht. Denn die allgemeine Unzufriedenheit, weit unter den eigenen Möglichkeiten geblieben zu sein, verbindet den ältesten Bundesligavertreter mit dem Emporkömmling aus Hoffenheim. Auch wenn der Verein von Mäzen Dietmar Hopp, der einst bis an die Tabellenspitze stürmte, mittlerweile glauben machen will, dass der Klassenerhalt allein das Glück auf Erden sei. Manager Alexander Rosen versicherte, wenn man einen Platz besser abschneide als letztes Jahr, dann sei das eine gute Saison. Das wird schon klappen. Alles nur eine Frage des Charakters.

JOHANNES KOPP