Mal wieder Krieg gegen die Deutschen

Beschäftigte müssen in Zukunft keine Kürzungen mehr hinnehmen, wenn sie nach 45 Beitragsjahren mit 63 in Rente gehen.“

Das ist fast schon ein poetischer Satz. Weil er eine Gesellschaft spiegelt, die den Anspruch, eine Zivilgesellschaft zu sein, noch nicht aufgegeben hat. 45 Jahre lang alte Menschen gepflegt oder seit man 18 war Klos repariert – dass es dann auch mal gut ist, versteht jeder.

Dafür, dass das, was alle verstehen, Gesetz wird, sind Volksparteien zuständig. Die SPD, so scheint es, versucht ganz langsam wieder eine zu werden, nachdem sie mit der Agenda 2010 aufgehört hatte, eine zu sein (ist noch jemand wach, wenn man das sagt?).

Dafür bekommt sie zum Beispiel in der FAZ, aus der unser schöner Eingangssatz stammt, die Populismuskeule übergebraten. Gleichzeitig forderte Alexis Tsipras, Kandidat der Europäischen Linken für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten, „den einfachen deutschen Bürger, der traditionell für die SPD stimmt“, dazu auf, „bei den Wahlen am 25. Mai zur Wahlurne zu gehen und mit seiner Stimme für die Europäische Linke zu stimmen, um damit ein Zeichen der Hoffnung und des Wandels zu setzen“.

Was aber ist „ein Zeichen“? Ein Symbol, etwas Abstraktes. Ein Zeichen zu setzen, ist letztlich nur ein anderes Wort für – Populismus.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich glaube, dass derzeit nichts wichtiger ist, als Pflöcke (eher Pflöckchen) wie den Mindestlohn und die abschlagsfreie Rente mit 63 einzuhauen. Diese pragmatisch-maultierhafte, Andrea-Nahles’sche Sturheit hat aber eine Perspektive nur dann, wenn sie der Logik des Kaputtsparens in den öffentlichen Haushalten sowie dem unverschämten Lohndumping eine politische Logik der Werte entgegensetzt.

In Italien haben Intellektuelle wie der Schriftsteller Andrea Camilleri und der ehemalige Präsident des italienischen Verfassungsgerichtes Gustavo Zagrebelsky gerade ein Manifest unterzeichnet, das zur Wahl von Tsirpas aufruft. Dort heißt es: „Um zu überleben, muss sich Europa grundsätzlich verändern. Es muss die Mittel für einen Marshallplan der Union bereitstellen, der den Abgrund schließt zwischen einem Europa, das es schafft, und einem, das es nicht schafft. Europa muss eine politische Union werden, also sich eine neue Verfassung geben. Und zwar eine, die von seinem Parlament, nicht von den einzelnen Regierungen geschrieben wird.“

Ja, warum eigentlich nicht.

Das European Recovery Program (Marshallplan) der USA sollte die europäischen Ländern vom Lagerwechsel Richtung Moskau abhalten. Und eine neue europäische Verfassung, beschlossen vom EU-Parlament, wäre jedenfalls eine, nach der eine Regierung Merkel weniger Einfluss hätte als zuvor. Wenn aber Finanzminister Schäuble am Donnerstag im Bundestag sagt, Deutschland habe die Finanzkrise besser überwunden als andere Staaten, und er mit dieser Einschätzung die gewiss ganz große Koalition der Deutschen hinter sich hat – was zum Teufel bleibt da von den Forderungen der Europäischen Linken übrig?

Nichts, richtig. Beziehungsweise alles – zumindest im Jahr 100 nach Beginn des Ersten Weltkriegs.

Zuletzt ist in die – einem öden Stellungskrieg ähnelnde – WWI-Gedenkwut ja dann doch der eine oder andere befreiende Diskurspanzer eingebrochen. Denn das einzig Aktuelle am Ersten Weltkrieg ist die Tatsache, dass „die Deutschen“ – die ganz große Koalition (siehe oben) – mal wieder nur durch einen Krieg von der Idee, an ihrem jeweiligen Wesen möge mindestens die EU genesen, abzubringen sind.

Die italienischen Pro-Tsirpas-Manifestanten sind dazu viel zu freundlich. Sie lehnen den deutschen Weg wie auch den des Nationalpopulismus ab. Wenn man zwei Wege ablehnt, bleibt ein dritter; doch diese dritten Wege, wenn man schon meint, aus der Geschichte etwas lernen zu können, haben sich noch immer als Sackgassen erwiesen. Oder erinnert sich noch jemand an jene Leute, die in der DDR einen freien demokratischen bla, bla, bla Sozialismus statt des Anschlusses an die BRD wollten?

Nein, in Europa ist keine Kraft in Sicht, die der herrschenden Logik gefährlich werden könnte. Dramatisch und dynamisch geht es dort zu, wo Menschen mehr wagen müssen, als ein Manifest zu schreiben. In Afrika etwa. Verteidigungs- und Außenministerium haben schon ein Auge auf die Region geworfen, Merkel ziert sich noch – und weiß auf ihrem Kurs der sogenannten militärischen Zurückhaltung die Mehrheit hinter sich. Das aber kann sich schnell und radikal ändern: Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass die Deutschen einmal einem Sehnsuchtsort wie Griechenland ganz kaltschnäuzig den Laufpass geben würden?

AMBROS WAIBEL

ROBERT MISIK