Geht er? Bleibt er? Benimmt er sich?

Hertha BSC Berlin füllt das Sommerloch mit einer Posse um seinen einzigen Star. Bei einem immer wahrscheinlicher werdenden Abgang von Marcelinho aber steuert die junge Mannschaft auf eine problematische Bundesligasaison zu

BERLIN taz ■ Immer wieder werden dieselben Fragen gestellt. Geht er? Bleibt er? Benimmt er sich? Marcelinho hat darauf keine zufrieden stellenden Antworten gegeben. Was er zurzeit souverän ausfüllt, ist einzig und allein das Sommerloch. Vor wenigen Wochen noch gastierten in Berlin die Künstler des Weltfußballs. Die WM aber ist vorüber, und so müssen sich die Debattiergemeinschaften der Hauptstadt mit den postpubertären Problemen eines brasilianischen Fußballprofis beim biederen Bundesligaklub Hertha BSC Berlin begnügen. Den meisten vergeht allerdings allmählich die Lust an dieser Diskussion – sie beginnt sogar gewaltig zu nerven.

Verschweigen kann man das Thema trotzdem nicht. Schließlich ist Marcelinho nach sportlichen Maßstäben der wichtigste Spieler des Klubs. An guten Tagen kann der 31-Jährige ein ganzes Stadion verzaubern. Deshalb haben Manager Dieter Hoeneß und Trainer Falko Götz bislang über die Launen ihrer südamerikanischen Diva hinweggesehen, über Verkehrsstrafen, dubiose Geschäfte, banale Terminschwierigkeiten, angebliche Abwanderungsgedanken, kurz: über ständigen Sinneswandel.

In diesem Sommer jedoch krönte Marcelinho sein reichhaltiges Eskapadenrepertoire: Er verlängerte seinen Heimaturlaub eigenmächtig um neun Tage. Seither strafen ihn die Kollegen im Trainingslager in Österreich mit Missachtung. Dass er sich mehrfach entschuldigt hat, so hart trainiert wie lange nicht mehr und um eine Vertragsverlängerung gebeten hat, lässt die Hertha-Oberen offenbar kalt. Und so werden Hertha BSC und Marcelinho wohl bald getrennte Wege gehen. Der mögliche Einsatz im UI-Cup-Rückspiel beim FK Moskau am heutigen Samstag (17.30 Uhr, Eurosport) könnte sein letzter sein. Der türkische Erstligist Trabzonspor hat ein konkretes Angebot unterbreitet. Die Wunschablöse der Berliner soll bei drei Millionen Euro liegen. 2001 war Marcelinho für rund acht Millionen gekommen.

Ein Verlustgeschäft – in vielerlei Hinsicht. Doch in Berlin atmen viele auf: Zeichnet sich das Ende des größten Problems ab? Kurzfristig schon. Doch während der Saison dürften neue Probleme hinzukommen. Die Mannschaft von Hertha BSC wird von jungen und unerfahrenen Spielern geprägt. Hoeneß hat keine andere Wahl, er kann den hoch verschuldeten Klub nicht mit weiteren Millionentransfers belasten. Finanziell wäre die Trennung von Marcelinho eine Erleichterung. Rund 1,8 Millionen Euro soll er jährlich verdient haben. Die Zahlung für das letzte Jahr seines Vertrages könnte sich der Klub sparen. Das wissen die Fans, deshalb halten sich ihre Proteste in Grenzen.

Was aber wird passieren, wenn Hertha in Moskau scheitert? Wenn, was nach dem 0:0 im Hinspiel gar nicht unwahrscheinlich ist, der Weg zu den Fleischtöpfen des Uefa-Cups versperrt bleibt? Was, wenn wie in der vergangenen Saison der Klub in eine sportliche Krise stürzt? Spieler wie Malik Fathi, Kevin-Prince Boateng, Christopher Samba, Sofian Chahed oder Solomon Okoronkwo sind 23 Jahre oder jünger. Der erste Reflex des schreckhaften Berliner Boulevards und des anspruchsvollen Publikums ist schon jetzt vorauszusehen. Eine Vermisstenanzeige würden sie aufgeben: Marcelinho, der Tänzer, könnte die Hertha retten, mit einem Dribbling, mit einem Pass oder mit einem Freistoß.

Doch das ist ein Trugschluss. Die Zeit, in der Marcelinho konstant gut spielte, ist lange vorbei. In der Saison 2004/05 wurde er zum besten Spieler der Bundesliga gewählt. Er hat Manager Hoeneß mit betörenden Toren erfreut – ihn aber auch mit vielen Disziplinlosigkeiten erzürnt. Marcelinho prägte das öffentliche Bild der Hertha, manchmal ließ er den Verein besser dastehen, als er war, manchmal schlechter. „Wer nicht mitzieht, hat bei uns nichts zu suchen“, sagte Hoeneß in den vergangenen Tagen immer wieder. Sollte er Marcelinho wieder begnadigen, würde er seinen Jugendstil konterkarieren und womöglich an Autorität verlieren. Erlauben kann er sich das nach dem vergangenen Winter nicht. Damals stand Hoeneß in der Öffentlichkeit so sehr in der Kritik wie nie zuvor. Auch ihm werden die Fragen täglich gestellt. Geht er? Bleibt er? Benimmt er sich? Dieter Hoeneß dürfte sich unter einem entspannten Sommerloch etwas anderes vorgestellt haben.

RONNY BLASCHKE