Der Traum vom Fischen und Jagen

Mehr als fünftausend Jahre ist sie alt, die Kultur der Sto:lo im kanadischen Bundesstaat British Columbia. Linnea Battel und ihre Mitarbeiter versuchen, das Erbe ihrer Vorfahren zu bewahren und an die nächsten Generationen weiterzugeben. Der Tourismus soll die Situation der Ureinwohner verbessern

„Indians sagt hier kaum noch jemand. Stattdessen hat sich Aboriginals, also Ureinwohner, durchgesetzt“

VON THOMAS WINKLER

Die Erdhäuser sind nicht gänzlich originalgetreu. Dafür sind sie jetzt erdbebensicher und rollstuhlgerecht. Besucher, die sich ducken, um eine der unter einen Hügel gegrabenen Behausungen zu betreten, fühlen sich dennoch zurückversetzt um tausende von Jahren. In eine Zeit, in der die Sto:lo an den Ufern des Fraser River den Lachs fischten und trockneten für den Winter, aus dem heiligen Holz der Zeder nicht nur ihre Kanus schnitzten, sondern auch Seile, Geschirr und Kleidung fertigten, als sie Handel trieben mit Stämmen, die tausende von Kilometern im Süden lebten, und Krieg führten mit ihren Nachbarn um die ungewöhnlich reichen Fischgründe.

Mehr als fünftausend Jahre ist sie alt, die Kultur der Sto:lo. Darauf ist man stolz im Xá:ytem Longhouse Interpretation Centre, wo Linnea Battel und ihre Mitarbeiter versuchen, das Erbe ihrer Vorfahren zu bewahren und an die nächsten Generationen weiterzugeben.

Die Sto:lo sind eine von mehr als 50 First Nations in British Columbia, so viele wie in keiner anderen kanadischen Provinz. Auch die offizielle kanadische Geschichtsschreibung hat nach Jahrzehnten der Unterdrückung akzeptiert, dass es vor der Ankunft der europäischen Siedler bereits menschliches Leben gab im Norden des amerikanischen Kontinents, die First Nations eben. „Indians“, so viel hat die politische Korrektheit erreicht, sagt hier kaum noch jemand. Stattdessen hat sich Aboriginals, also Ureinwohner, zwar mittlerweile durchgesetzt im Sprachgebrauch, aber um ihre Rechte, vor allem um das gestohlene Land, aber auch um Fischereirechte streiten die First Nations bis heute vor den Gerichten.

Die Nachkommen dieser Ureinwohner haben immer noch zu kämpfen mit den Folgen der Unterdrückung. In den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts wurde ins Gefängnis geworfen, wer die alten Lieder sang, erst seit den Sechzigern dürfen die Ureinwohner überhaupt wählen. In den Achtzigern gab es gerade noch vier Menschen, die Halq’emeylem, die Sprache der Sto:lo, sprechen konnten. Selbst Battel, die Leiterin von Xá:ytem, ist dank ihres Mannes zwar des Italienischen mächtig, hat aber aus Angst niemals die alte Sprache ihres Volkes erlernt.

1993 begann Battel das Projekt, unterstützt von der Provinzverwaltung, in einem Wohnwagen. Nun besuchen 15.000 jährlich das Interpretation Centre am Ortsrand von Mission, eine halbe Autostunde westlich von Vancouver gelegen. Mehr als zwei Drittel von ihnen sind Schüler und Studenten, die hier in den Langhäusern, angewiesen von bis zu 16 Mitarbeitern, in Workshops Ocker reiben, aus der Rinde der Zeder Netze flechten oder aus Steinen Fischmesser zu schlagen versuchen. Xá:ytem versteht sich eher als Begegnungsstätte denn als Museum. Touristen verirren sich eher selten hierher, obwohl die Ausstellung fast einen größeren Informationswert bietet für den an indianischer Kultur Interessierten als das Anthropologische Museum der Universität von British Columbia in Vancouver. Dort stehen zwar gewaltige Totempfähle, kann man ein Original-Kanu in seiner ganzen Länge abschreiten und werden Masken und Trommeln in Mengen gehortet. Die Präsentation der Objekte allerdings geht kaum über den reinen Schauwert hinaus.

In der Touristen-Information von Vancouver fällt den Mitarbeiterinnen nicht viel ein an Angebot für den an indianischer Kultur Interessierten. Nein, Touren zu diesem Thema gebe es in der Gegend angeblich keine. Nicht einmal aufs Anthropologische Museum wird man hingewiesen. Zum Ausgleich zieren die Wand hinter dem Counter sehr farbenfrohe indianische Masken.

Trotzdem: Das Bewusstsein, dass die indianische Kultur ein Pfund ist, mit dem der Tourismus wuchern kann, wächst. Auch weil sich British Columbia, wenn die Welt während der Olympischen Winterspielen 2010 in Vancouver auf die Region blickt, als weltoffen und doch traditionsbewusst präsentieren will. „Man kann nach Cancún oder Barbados fahren, aber ein Strand bleibt immer nur ein Strand“, sagt Nora Weber, „die indianische Kultur dagegen vermittelt den Menschen einen spirituellen Sinn.“ Weber ist Leiterin der Aboriginal Tourism Association of British Columbia (ATBC) und als solche damit beschäftigt, Tourismus-Initiativen der First Nations anzustoßen, zu vernetzen und zu promoten.

Die Frage, die sie dabei stets beschäftigt, ist: Wie kann Spiritualität als Produkt vermarktet werden, ohne zum Kitsch zu werden oder die Traditionen zu beschädigen? Ihre Antwort ist simpel: „Lass die Ureinwohner selbst entscheiden. Sie sollen bestimmen, welche Stätten ihnen zu heilig sind, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, und welche Touristen besuchen dürfen.“ Tatsächlich kann der Tourismus sogar eine Chance sein, die Kultur der Ureinwohner zu erhalten. Eine Kultur, die 1884 von der kanadischen Regierung verboten wurde. Die Ausübung religiöser Rituale stand unter Strafe, Kinder wurden zwangsweise in so genannte Residential Schools verschleppt, um ihre kulturellen Wurzeln zu kappen, die Sprachen der Ureinwohner drohten auszusterben. Erst 1951 wurde das Verbot des traditionellen Stammestreffens, des Potlatch, wieder aufgehoben. Weber erzählt von ihrer Großmutter, die Zeit ihres Lebens ihre indianische Herkunft verschwiegen und stattdessen behauptet hatte, sie sei Spanierin.

Mittlerweile, berichtet Weber, „lebt diese Kultur wieder, werden die alten Geschichten wieder nachts am Lagerfeuer erzählt“. Aber in den Reservaten, in denen immer noch die große Mehrzahl der First Nations lebt, hat man noch heute mit den Folgen dieser Politik zu kämpfen. Alkoholismus, Gewalt und Missbrauch sind an der Tagesordnung, Arbeitslosigkeit und Armut bestimmen den Alltag. Anders sieht es nur aus im südlichen Alberta, wo in einigen Reservaten Öl gefunden wurde und sich das Filmgeschäft so gut entwickelt hat, dass die dort heimischen Stämme zu Wohlstand gekommen sind.

Doch in den restlichen Reservaten Kanadas leben die Bewohner noch vornehmlich von Fischfang und Jagd. Der Tourismus könnte ein Weg sein, auch dort Arbeitsplätze zu schaffen und gleichzeitig die Kultur der Ureinwohner zu erhalten. Denn, so hofft Weber, „wenn Ausländer hierher kommen und sich dafür interessieren, dann wirkt das auch wieder zurück auf die kanadische Gesellschaft und erhöht hier den Respekt für diese Kultur.“

Dazu allerdings müssen diese Touristen erst einmal akzeptieren lernen, dass eine lebendige Kultur eine Kultur in ständiger Bewegung ist. „Viele Ausländer, vor allem die Deutschen“, erzählt Weber, „erwarten die indianische Kultur wie eingefroren zur Mitte des 19. Jahrhunderts, aber auch das sind Kulturen, die im ständigen Wandel begriffen sind.“ Schon dass der indianische Geschichtenerzähler möglicherweise nicht im prächtigen Federschmuck daherkommt, sondern vielleicht nur eine speckige Baseball-Kappe trägt, kann bereits viele verstören.

Dank der Initiativen, die ATBC betreut, kann man sich nun auf die Spuren indianischer Kultur begeben. Meist kleine Tourveranstalter vor Ort führen den Touristen in die zerklüfteten Berge der Rocky Mountains oder schippern ihn mit dem Kanu über die unzähligen Seen und Flüsse. Zu sehen sind heilige Stätten, zu hören die dazugehörenden Geschichten.

Doch auch größere Projekte wurden in den letzten Jahren entwickelt: Die Secwepmenc betreiben am Nordufer des Little Shuswap Lake das Quaaout Resort & Conference Centre. Und in den Cross River Cabins, im Herzen der Rocky Mountains, am Rande des Kootenay Nationalparks gelegen, kann man sich entscheiden, ob man lieber in einer Blockhütte oder im Tipi nächtigt. Am weitesten fortgeschritten sind die Bemühungen der Okanagan: Der Stamm finanziert nicht nur das Nk’Mip Desert & Heritage Center, bietet Wanderungen und Führungen durch das historische Dorf an, sondern betreibt auch den 18 Löcher langen Nk’Mip Desert Golf Course und die Nk’Mip Cellars, das einzige von Ureinwohnern geführte Weingut in Kanada.

Von Ureinwohnern betriebene Hotels dagegen sucht man auch in den Reservaten noch weitgehend vergeblich, in Vancouver gibt es mit dem Liliget Feats House gerade mal ein einziges indianisches Restaurant, das von Aboriginals geführt wird. Auch die in den USA so verbreiteten und beliebten Casinos auf Indianer-Land haben sich in Kanada noch lange nicht in dem Maße durchgesetzt wie beim südlichen Nachbarn. Vielleicht aber ist das gerade eine Chance, denn der Glücksspielbetrieb in den Reservaten birgt neue Gefahren. Für Weber liegt die Zukunft stattdessen im lokalen Tourismus und im Kunsthandwerk. Letzteres ist mittlerweile so beliebt, dass der Markt neuerdings überschwemmt wird von billigen Kopien aus Taiwan. „Wir brauchen ein Echtheitszertifikat“, fordert Weber.

Aber trotz aller Erfolge und Fortschritte: Eine Fahrt durch eins der Reservate führt schnell vor Augen, wie benachteiligt die Ureinwohner immer noch leben. Der bauliche Zustand der Seitenstraßen lässt zu wünschen übrig, um heruntergekommene Behausungen sammelt sich Müll, vor baufälligen Garagen stehen verrostete Automobile. Deutlich sind die Folgen einer Arbeitslosenquote von mehr als fünfzig Prozent sichtbar. Der Tourismus kann die Situation der kanadischen Ureinwohner verbessern, er kann Arbeitsplätze schaffen. Die alleinige Lösung aber bietet er sicherlich nicht.