Besuch in der Geisterstadt

Journalisten können sich nur in Begleitung der Milizen hierher wagen. Sie geben weiterhin den Ton an In den Trümmern zeigen sich ständig Überreste zivilen Lebens. Verkohlte Dreiräder, Stofftiere

aus Beirut Karim El-Gawhary

„Wir treffen uns Punkt 14 Uhr an der Kreuzung zwischen der zerbombten Brücke und der ausgebrannten Tankstelle.“ So lautete die Anweisung des Hisbollah-Pressesprechers am Telefon. Der Ort im Herzen von Haret Hreik, in der südlichen Vorstadt Beiruts, war tatsächlich nicht zu verfehlen.

Er liegt mitten in einer Trümmerwüste, nur 20 Autominuten vom Zentrum der libanesischen Hauptstadt entfernt. Dort, wo einst das Politbüro der schiitischen Miliz, ihre Pressestelle sowie die parteieigene Fernsehstation al-Manar ihre Adressen hatten. Hier in Haret Hreik, das übersetzt „belebte Gasse“ heißt, steht kein Stein mehr auf dem anderen. Das Viertel Hadi Nasrallah, benannt nach dem Sohn von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah, um dessen „Märtyrertod“ 1997 bei einem israelischen Luftangriff zu ehren, existiert nicht mehr.

Was man von der Hisbollah selbst nicht behaupten kann. Journalisten können sich nur in Begleitung der Milizen hierher wagen, die in dieser Totenstadt weiter den Ton angeben. Sie beäugen misstrauisch jeden, der hier heraus- und hereinfährt. Die Waffe hängt griffbereit an der Schulter, per Funkgerät geben sie die Meldungen an ein unbekanntes Hauptquartier weiter. So viel zur Behauptung Israels, es würde die Infrastruktur der Hisbollah zerstören.

„Folgt meinen Befehlen. Wenn ich sage: ‚Evakuieren‘, dann heißt das: ‚Sofort raus hier!‘ Weil die Israelis dann bombardieren werden. Unsere Sicherheitsleute haben das hier alles im Griff“, beginnt Hussein Nablusi eine Stadtführung ganz besonderer Art.

15-stöckige Hochhäuser stehen nicht mehr, bei anderen Gebäuden fehlen fünf von zehn Etagen. Die Straßen sind mit Trümmern verschüttet, die überklettert werden müssen. Strom- und Telefonkabel versperren den Weg. Die Ruinen sind menschenleer. Die Menschen müssen es eilig gehabt haben, hier wegzukommen. An manchen Balkonen hängt noch die Wäsche oder ein Teppich, der kurz vor den ersten israelischen Angriffen zum Lüften herausgehängt worden war, bevor die Zivilisten der Nachbarschaft von der Hisbollah evakuiert wurden.

Vor zwei Wochen haben sie hier noch im Fernsehen die Fußball-WM verfolgt. An einem Balkon hat jemand eine brasilianische Fahne aufgehängt, in der Gasse um die Ecke spannt sich noch eine deutsche Fahne quer über die Straße. Über hundert Tote soll es nach Angaben der Hisbollah hier gegeben haben.

In Hadi Nasrallah lag die politische Zentrale der Hisbollah. Deren Verbindungen zum Iran sind allgegenwärtig. Nicht nur auf einem Wassertank ist die Fahne der Islamischen Republik Iran gemalt. Aber das liegt auch daran, dass das hier ein ganz normales schiitisches Wohnviertel war.

„Das war nicht nur das Hisbollah-Hauptquartier, hier haben wir mit unsren Familien und Verwandten gelebt, hier leben ganz normale Leute“, sagt Nablusi und macht eine 360-Grad-Handbewegung über die Silhouette der Ruinenstadt.

Ein gespenstische Stille liegt über dem Ort, unterbrochen vom Rasseln eines Weckers, der irgendwo unter dem Schutt begraben liegt. Es riecht nach verschmortem Plastik. In den Trümmern zeigen sich ständig Überreste zivilen Lebens. Ein Plastikbobbycar für Kinder hat bei dem Bombardement ein Vorderrad verloren. Ein paar Schritte weiter steht ein verkohltes Dreirad. Alles ist mit einer grauen Staubschicht zugedeckt. Man muss schon genau hinsehen, um die Stofftiere im Geröll erkennen zu können. Sie erweisen sich als ein Teddybär und ein Stofftiger.

Schuhe, Bücher, eingeschmolzene Computer, Teile von Möbeln, das private Leben von hunderten von Menschen liegt auf der Straße ausgebreitet. Eine zerkratzte rosa DVD schimmert ein wenig durch die Staubschicht hindurch. „Die Sesamstraße“ auf Arabisch.

An der kleinen Boutique fehlt die Vorderfront. Die Schaufensterpuppe steht noch, wenngleich durch den Druck der Explosionen ihr Rock nach unten gerutscht ist. In dem benachbarten Café wird so schnell nichts mehr ausgeschenkt werden. Metalltisch und Stühle sind mit einer Rußschicht überzogen, der Rest des Raums ist ausgebrannt. Nur der Cola-Automat steht noch, wenn es Strom gäbe, gäbe es sogar ein kühles Getränk.

Auch im Friseurladen nebenan wird so schnell niemand mehr für einen Haarschnitt anstehen. Der Spiegel ist in die Mitte des Raumes gekracht, eine zerstörte Trockenhaube liegt daneben, halb verdeckt von einem Wäscheständer mit den verdreckten Handtüchern, die hier zum Trocknen aufgehängt waren.

Nablusi macht an der wichtigsten Sehenswürdigkeit seines Rundgangs halt. Am Tag zuvor, es war der vergangene Mittwoch, sind die letzten Bomben hier eingeschlagen, angeblich auf einen Bunker der Hisbollah-Führung. Die streitet das ab. Noch am selben Abend wird sich Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah im Interview mit der arabischen Fernsehstation al-Dschasira an einem geheimen Ort zeigen. Er könne, ohne zu übertreiben, bestätigen, „dass die Führungsstruktur der Hisbollah nicht geschädigt wurde“, sagt er. Die Hisbollah habe die israelischen Angriffe verkraftet. „All dieses israelische Gerede, dass sie 50 Prozent unseres Raketenpotenzials und unserer Lager getroffen hätten, ist falsch und Unsinn“, sagt er und warnt: „Es gibt immer noch Überraschungen, die wir für die nächste Phase bereithalten.“

Nasrallah gibt also munter weiter Interviews. An der Stelle, wo die israelischen Kampfjets seinen Bunker vermuteten, klafft ein riesiger Trümmerkrater. „Das war nicht Nasrallahs Bunker, sondern ein Supermarkt. Da können Sie jeden aus dieser Gegend fragen“, behauptet Nablusi. Wie auch immer. Nichts ist mehr davon übrig. Nach israelischen Militärangaben wurden insgesamt 23 Tonnen Bomben auf die Stelle abgeworfen, darunter auch bunkerbrechende Waffen. Der Rauch hat sich auch noch am nächsten Tag nicht ganz verzogen. An manchen Stellen glimmen noch kleinere Feuer, nur langsam geht den Flammen die Nahrung aus.

Je länger Nablusi über den Schutt vorausklettert, umso erregter wird er. „Sie zielen immer auf zivile Einrichtungen. Warum wagen sie es nicht, sich mit unseren Kämpfern an der Grenze zu messen! Stattdessen kommen sie mit ihren hoch fliegenden Kampfflugzeugen und zielen auf Zivilisten“, echauffiert er sich. Hier gehe es nicht um zwei entführte israelische Soldaten, sondern um eine Racheaktion, erklärt er seine Sicht der Dinge. Der israelische Premier Olmert habe einfach nicht überwunden, dass die Hisbollah die einzige militärische arabische Organisation sei, die Israel eine Niederlage bereitet habe, sagt er und meint den Rückzug der israelischen Armee aus dem Südlibanon vor sechs Jahren.

Vereinzelt und nur kurz kommen die Einwohner in das Viertel zurück, um ein paar Habseligkeiten abzuholen. Jemand läuft die Straße entlang. Er hat sich ein paar Hemden und Hosen aus dem Kleiderschrank geholt, die er jetzt an den Kleiderbügeln über die Schulter geschwungen hat. Er lebe hier, sagt der Mann und deutet auf ein Haus an der Straßenecke, das noch steht. Er sei kurzfristig bei Verwandten in der Beeka-Ebene untergekommen, erzählt er kurz angebunden und zieht eilig seines Weges. Keiner weiß, wann die nächsten Bomben einschlagen werden.

Die israelischen Generäle hatten zu Beginn des Krieges versprochen, Libanon um zwei Jahrzehnte zurückzubomben, wenn die entführten Soldaten nicht freigelassen würden. Zumindest in der südlichen Vorstadt Beiruts haben sie ihre Drohung bereits wahr gemacht. Wenige Stunden nach Nablusis Stadtführung hallt der Lärm mehrerer Explosionen über der Stadt. Wieder einmal hat die israelische Luftwaffe die Geisterstadt im Süden ins Visier genommen.