„Wir sind Sozialschrott“

Wolfgang Jantzen, scheidender Professor für Behindertenpädagogik, über die Zukunft seines Faches, Folter in Behinderten-Verwahranstalten und über Seine Exzellenz den Sonnenkönig der Uni-Bremen

„Behinderte sind so lange gut, so lange sie Natur und Objekte des Mitleids sind“

Interview von Jan Zier

Wenn Sie am Mittwoch ihren Lehrstuhl räumen, dann ist wohl auch der Studiengang Behindertenpädagogik bald passé. Schmerzt sie das?

Wolfgang Jantzen: Nein, gar nicht. Ich hatte die Möglichkeit, hier einen Studiengang zu entwickeln, wie es nirgendwo anders gegangen wäre. Wir haben viel geleistet. Und was gut gewesen ist, können andere verwenden.

Sehen Sie noch Chancen für den Erhalt des Studiengangs?

Ja. Von einer vollständigen Streichung ist nicht mehr die Rede. Es geht nur noch darum, ob das Fach als ein Selbständiges erhalten bleibt oder nicht. Bremen ist in einer Situation, wo es sich den Fortfall des Studiengangs bildungspolitisch nicht leisten kann. Ich kann mir das nur so erklären: Dahinter steckt eine späte politische Abrechnung mit den Grundlagen der Bremer Uni.

Sie sind einer der Letzten, der die rote Bremer Uni symbolisiert. Überall wird stolz vermeldet, dass dieser Irrtum jetzt endlich überwunden sei.

Ich halte das für ganz großen Quatsch. Wenn man den Marxismus mal von dem trennt, wofür er in der Öffentlichkeit polemisch gehalten wird, dann taucht etwas völlig anderes auf: Eine außerordentlich differenzierte Philosophie und wissenschaftliche Methodologie, tief verankert in der deutschen Aufklärung. Wer sich davon trennt, trennt sich von der Geschichte Deutschlands und Europas.

Eine herbe Kritik an der „Elite-Uni“ Bremen.

Selbstverständlich. Aus dieser Sicht sind wir als Fach Behindertenpädagogik natürlich das fünfte Rad am Wagen. Sozialschrott. Man kann eine Zeit lang auf Neoliberalismus setzen. Aber der wird untergehen, weil er sich die eigenen Wurzeln abgräbt. Die Exzellenz-Initiative soll wohl dazu führen, dass auch der Rektor mit Exzellenz angeredet wird. In einigen Fachbereichen wird er in der Verwaltung bereits der „Sonnenkönig“ genannt.

Das öffentliche Ansehen der Uni ist sehr gestiegen.

Ich bestreite das nicht. Mein Problem ist, dass das zu einer geradezu sträflichen Vernachlässigung der Sozial- und Humanwissenschaften geführt hat. Auch die Lehrerbildung hat man dahinvegetieren lassen, unter ganz elenden Umständen.

Ist das noch Ihre Universität?

Durch ihre Geschichte: Ja.

Morgen halten Sie Ihre Abschiedsvorlesung über den Nutzen des Marxismus für die Behindertenpädadagogik. Wie sieht dieser Nutzen aus?

Die Behindertenpädadagogik ist eine Humanwissenschaft, die eine Breite hat, wie kein anderes Fach. Dazu gehört selbstverständlich auch die politische Ökonomie, denn die Transferleistungen für Behinderte ändern sich – in deutlicher Abhängigkeit von den Prozessen der Globalisierung. Das Problem ist nur: Marx war mit Erlösungsutopien aufgeladen. Das kann nur schief gehen.

Sie waren 1987/88 an der Uni Leipzig. Wie haben Sie die Rolle der Behinderten in der DDR erlebt?

Nicht allzu sehr, weil ich gar nicht herangekommen bin.

Was hat Sie bewogen zurückzukehren?

Ich habe angefangen mich wohl zu fühlen – musste mir aber jede Wessi-Arroganz verbieten. Es war sehr heilsam für mich. Ich habe viel über die Doppelbödigkeit von sozialistischen Gesellschaften gelernt.

Ernüchternd für einen, der DKP-Mitglied war?

Nein. Der Schock war anfangs groß. Aber ich habe auch gesehen, was drin gewesen wäre. Kurz danach bin ich aus der DKP ausgetreten und war kurz bei der PDS. Heute sehe ich mich als Kommunist ohne Parteibuch.

Heute wird wieder gerade in Bremen viel über Sonderbehandlung für Behinderte diskutiert. Waren wir da nicht schon mal viel weiter?

International sind wir völlig isoliert mit unserer Position. Integration, wenn man sie wollte, würde die Lehrerbildung zwingen, nicht nur das fiktive Normalkind zu sehen und Differenz als Bereicherung zu betrachten. Wenn man diesen Prozess verfolgt, haben auch geistig Behinderte große Entwicklungschancen. Und alle Kinder werden demokratiefähiger, lernen mehr. Aber dazu gehören basisdemokratische Prozesse, wie die oft verschriene „Kuschelecke“ .

Was ist mit den Großanstalten für Behinderte?

Ich habe sehr lange und intensiv Großeinrichtungen beraten, kenne vieles von innen. Und ich könnte an einer Reihe von Einzelfällen zeigen, dass die Einrichtungen beweispflichtig sind, dass sie nicht foltern. In einem Wohnheim in Bremen muss einer unserer Studenten immer wieder einen Mann trösten, der Angstanfälle bekommt, weil er meint, in einen Sarg eingesperrt zu werden. In der Einrichtung, in der er vorher war, haben sie ihn in einen Sarg eingesperrt. Das ist purer Alltag. In meinen Augen sind eine Reihe von Großeinrichtungen kriminelle Vereinigungen. Da hilft alle vordergründige Sozialtünche, alles humanitäre Gequatsche nichts. Das Lächerlichste ist, dass die Anstalten immer sagen: Unsere Mitarbeiter leisten Beziehungsarbeit. Schlecht ausgebildete, emotional ausgebeutete Mitarbeiter, voll von Helfersyndromen.

Liegt es an den Institutionen oder an den Mitarbeitern?

Es sind die Institutionen als solche. Aber es ist auch nicht so, dass sie das nicht sehen. Der Alltag macht sie blind. Und das Führungspersonal ist zu sehr von der Macht besoffen.

Hilft das Antidiskriminierungsgesetz den Behinderten?

Antidiskriminierung geht immer nur so weit, wie sie sich nicht auf die Lohnnebenkosten auswirkt. Behinderte sind so lange gut, so lange sie bloße Natur bleiben und Objekte des Mitleids sind. Sobald sie selbst Ansprüche haben, sind sie widerlich.

Dienstag, 13 Uhr: Abschiedsvorlesung „Marxismus und Behinderung“ in GW2, Raum B 3009, der Uni Bremen