Die Wand als Fake

Probebohrung

Frau M. schaut in den sonnendurchfluteten Hinterhof und hat genug. Gerne würde sie eine Probebohrung vornehmen. Zu ihrem Vergnügen einmal außerordentlichen Lärm verursachen. Und aus Neugierde. Ermitteln, wie dünn dieses immerhin hundert Prozent blickdichte Etwas ist, das sie von dem Jugendlichen nebenan trennt. Fingerdünn? Wie ein gemeiner Mauerstein? Zwei Rigipsplatten weit?

Seit er einen eigenen Fernseher hat, hat sich auch Frau M.s Leben radikal verändert. Denn: Seither sieht er fern in seinem Zimmer, so viel er kann, und weil er offenbar keine Aufgaben hat, sieht er immer fern, sobald er wach wird und solange er wach bleibt. Bis morgens vier, fünf, sieben Uhr hört sie die Glotze.

Das Gerät ist leise, auf weniger als so genannte Zimmerlautstärke eingestellt. Durch diese Wand jedoch hört Frau M. das nervöse Rumoren des TVs trotzdem und seine Selbstgespräche und alles andere, was in dem Zimmer geschieht. Das Knipsen des Lichtschalters, zum Beispiel.

Ist das artgerechte Haltung?, fragt sich die Frau. Wie viele TV-Orgien, wie viel an Sucht, Langeweile und privater Rede verträgt ein Mensch bezüglich eines anderen, mit dem er nicht das Bett teilt. Aber die Wand. Und sonst nichts. Für diese Räume Geld zu verlangen, findet Frau M. mittlerweile eine originelle Idee.

Nun gibt es manche, die im dicht besiedelten Neukölln Nord froh sind, ein bezahlbares Dach über dem Kopf zu haben. Deshalb dulden sie auch, was die Mischung aus Enge, Bausubstanz und massenhaftem Nicht-gebraucht-Werden so hergibt. Frau M. allerdings hat genug gehört. Sie wird sich auf den Weg machen. Aber vorher, da gönnt sie sich noch diese Probebohrung. Vielleicht so gegen ein Uhr. Früh.

GUNDA SCHWANTJE