FÄHNCHENENTSORGUNG
: Resteposten

Jeder trägt seine eigene Fahne vor sich her

Ich recherchiere gerade, was aus den vielen schwarz-rot-goldenen Fähnchen wurde. Bei Karstadt am Hermannplatz stehen sie noch dutzendweise herum und lugen irgendwie traurig und schlaff aus einem Ständer heraus. „Resteposten“, sagt die Verkäuferin verächtlich.

Auch die Berliner Autobahn ist ein beliebter Ort der Fähnchenentsorgung, was mich an Haustiere erinnert, vor allem Hunde, die dort von den Besitzern ausgesetzt werden.

Ich befrage einen arbeitslosen Soziologen, von denen es hier viele gibt: „Komisch ist es schon“, sagt er. „Begründet wurde die bei der letzten WM aufkommende Fähnchenhysterie ja damit, dass man endlich so normal werden wolle wie alle anderen Nationen auch. Alle anderen Nationen aber würden nie auf eine solche Schnapsidee kommen, denn die wollen nicht normal, sondern selbstverständlich etwas Besonderes sein.“ Das leuchtet mir ein. Kein Wunder, denn die befragte Person bin ich selbst. „Außerdem“, sagt der Soziologe, „Fußball ist eine Unterschichtsangelegenheit. Die Mittelschicht passt sich an und proletarisiert bewusstseinsmäßig im Laufe einer WM. Die Außenspiegelwärmer sind da ein Indiz, denn sie übernehmen die Funktion der gehäkelten Klorolle.“ „Aha“, kommentiere ich den Kommentar.

In der rund um die Uhr geöffnete Unterschichtstrinkerkneipe „Ohne Ende“ ist die schwere Beflaggung auch zu Ende. Jeder trägt wieder seine eigene Fahne vor sich her, denn außer ihr haben die Leute, die sich mit letzter Kraft am Tresen festhalten, nichts mehr. KLAUS BITTERMANN