„Familien wurden getäuscht“

ZEITZEUGENGESPRÄCH Zwei Brüder sprechen über ihre von den Nazis ermordeten Geschwister

■ 58, leitet die Kulturambulanz am Klinikum Ost, die in der Unibibliothek bis zum 3. März „Medizinverbrechen an Kindern im Nationalsozialismus“ ausstellt.

taz: Herr Tischer, können Sie verstehen, wenn Menschen sich nicht damit beschäftigen wollen, dass in der NS-Zeit medizinische Versuche an behinderten Kindern unternommen wurden – bevor die meisten von ihnen als „unwertes Leben“ getötet wurden?

Achim Tischer: Ja, natürlich. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, eine Haltung zu diesen oft vergessenen Opfern des Nationalsozialismus zu finden.

Warum?

Weil wir glauben, davor gefeit zu sein, Fehler zu begehen, dass uns so etwas nicht passieren würde. Es waren aber keine Einzeltäter, sondern ein ganzes Gesundheitsnetzwerk, das daran gearbeitet hat, behinderte Kinder ausfindig zu machen. Übrigens nicht auf Anordnung aus Berlin, sondern auf eigene Initiative. Da waren auch Fürsorger und Kinderärzte dran beteiligt.

Und Eltern.

Vielen wurde vorgetäuscht, dass ihre Kinder nach neuestem medizinischen Stand behandelt würden. Es gibt Familien, die haben sich ans Gesundheitsamt gewendet, weil sie mit dem behinderten Kind nicht in den Bunker konnten, das hat das nicht ausgehalten. Die haben Hilfe gesucht und gerieten so ins System. Andere waren alleinerziehend und konnten ihr Kind nicht mehr versorgen. Oder sie wurden so unter Druck gesetzt, dass sie keine andere Wahl hatten.

Wie viele Kinder kamen von Bremen in die „Kinderfachabteilung“ nach Lüneburg?

Wir wissen von einer Gruppe von 36 Kindern, die zwischen 1942 und 1945 überwiegend direkt aus ihren Familien dort hingebracht wurden. Hinzu kommen etwas über 120 Kinder und Jugendliche aus dem „Haus Reddersen“, einer aufgelösten Anstalt, von denen die Hälfte an verschiedenen Orten ermordet wurde. Dazu müssen sie diejenigen zählen, die zwangssterilisiert wurden. Von 2.000 Menschen aus Bremen war der Großteil jugendlich.

Es gab auch Überlebende?

Ja, wenige Familien holten ihre Kinder zurück und gingen damit ein großes Risiko ein.

Die beiden Familien, von denen heute Angehörige als Zeitzeugen sprechen, nicht.

Nein. In dem einen Fall war das Kind, eine Dreijährige, schon einen Tag nach der Einlieferung tot. Der andere Zeitzeuge hatte drei Halbgeschwister, die ermordet wurden. Zwei Schwestern und einen Bruder.  INTERVIEW: EIB

16 Uhr, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Ausstellung bis 3. März