BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Die Polizisten und ich

Seitdem ich mir wieder einen Plattenspieler zugelegt habe, bin ich auf einer Reise in die Vergangenheit

Es war zu der Zeit, als vieles wertlos erschien. Nicht wertlos im Sinne von ohne Wert, aber nicht wert, in den Westen mitgenommen zu werden. Meinen Plattenspieler zum Beispiel ließ ich zurück, ohne mit der Wimper zu zucken. In meinem neuen Leben im Westen war kein Platz für Plattenspieler und Vinyl mit den Puhdys oder Georges Moustaki.

Ich legte mir einen schicken CD-Player zu und gab viel Geld für CDs aus. Es dauerte eine Weile, bis ich mich an diese kleinen Scheiben gewöhnte, die man nicht auflegt, sondern einschiebt. Am Anfang musste ich immer an die Zeit denken, als ich noch nicht wusste, was CDs sind. Das war Mitte der 80er-Jahre, als einem Brief aus dem Westen, einfach so und ohne Kommentar, eine silberne runde Scheibe beigelegt war. Keine Ahnung, was sich der Absender dabei gedacht hatte, wahrscheinlich nichts. Wie ich das Ding auch drehte und wendete, es blieb mir ein Rätsel. Ratlos nagelte ich die Scheibe als Dekoration an die Wand.

Der Reiz des Neuen, wie das so ist, hielt nicht ewig. Vor wenigen Jahren sehnte ich mich nach einem Plattenspieler zurück. Weil meiner längst auf dem Müll der Geschichte gelandet war, machte ich mich auf die Suche nach einem gebrauchten Plattenspieler. Fündig wurde ich in einem Geschäft mit dem Namen Vinyl in Berlin-Friedrichshain. Dort verkauft Marco, ein aus Süddeutschland zugereister junger Mann, funktionsfähige Abspielgeräte und jede Menge Platten dazu.

Ich kaufte ihm ein robustes Gerät von irgendeiner Westfirma und einen potenten Kenwood-Verstärker ab. Bei den Boxen aber senkte er die Stimme. „Das sind gute alte RFT-Boxen“, sagte er. RFT? Unter dem Warenzeichen „Rundfunk- und Fernmeldetechnik“ wurde im Osten begehrte Heimelektronik hergestellt. Ich erinnerte mich an meine Jugendweihe. Von dem Geld, das ich fürs Erwachsenwerden im Sozialismus geschenkt bekam, hatte ich mir einen Stern-Recorder von RFT gekauft und war überglücklich. Und jetzt die legendäre Bassreflexbox BR 25, hergestellt vom VEB Statron Fürstenwalde. Die bundesdeutsche Zeitschrift Funktechnik bestätigte der DDR damals, damit Anschluss an den internationalen Standard gefunden zu haben. Bis zur Wende wurden etwa 650.000 Stück produziert, die Hälfte ging in den Westen. Jetzt tun sie ihren Dienst bei mir, und Marco ist mein Plattendealer geworden.

Neulich erzählte er mir, dass er einmal im Monat in einer Karaoke-Bar eine Plattenversteigerung veranstaltet. Mindestgebot: 50 Cent. Das klang lustig, also ging ich hin. Ich zwitscherte mit Marco einige Biere, und er stellte mir einen Kumpel aus Schwaben vor. In dem Moment war ich froh, dass die Musik so laut war. Gegen Mitternacht begann die Versteigerung, und der Schwabe musste seine Klappe halten.

Als „Roxanne“ von The Police aufgelegt wurde, riss ich den Arm nach oben. Ich weiß nicht, warum, aber ich musste die Platte mit diesem Lied über die Liebe zu einer Prostituierten unbedingt haben. Leider war ich nicht die Einzige, die scharf darauf war. Marco trieb den Preis hoch auf zwei, vier, sechs Euro, erst bei 7,50 Euro bekam ich den Zuschlag. Glücklich hielt ich die Platte in den Händen … und hatte eine Amiga-Pressung ersteigert! Das staatseigene Label der DDR hatte 1988 „Every Breath You Take“ von der Deutschen Grammophon Gesellschaft Hamburg übernommen, Lithografie und Druck hatte der Volkseigene Betrieb VMW Ernst Thälmann beigesteuert. In dem Text auf der Rückseite, geschrieben vom Texter der Puhdys, war die Rede von der „Schuldknechtschaft“ eingesessener Plattenfirmen, und The Police war an der einen oder anderen Stelle mit „Die Polizisten“ übersetzt.

Ich holte mir ein Bier, dachte an meine RFT-Boxen, Amiga und was mir sonst noch wertlos erschienen war und trank auf die Erkenntnis, dass einen die Vergangenheit immer wieder einholt. Als ich von der Bar zurückkam, prostete mir der Schwabe zu. „The Police isch immer gut“, sagte er. Schlagartig war ich zurück in der Gegenwart. Ich nahm einen großen Schluck aus der Flasche und nickte. „Ja“, sagte ich, „The Police isch immer gut.“

Fotohinweis: BARBARA BOLLWAHN ROTKÄPPCHEN Knister, knister? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Dribbusch über GERÜCHTE