Die Flammen wüten weiter

RUSSLAND Brandherde sind noch immer nicht unter Kontrolle. Die Behörden verschweigen das wahre Ausmaß der Katastrophe

Zum ersten Mal wurden die Bewohner angehalten, nicht ins Freie zu gehen

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Dichte Rauchschwaden auf Augenhöhe. Ein bedrohlich dunkler Himmel, an dem sich die Sonne nicht mal erahnen lässt. Hitze und Brandgeruch erfüllen Moskaus menschenleere Straßen. Die Bewohner haben sich zu Hause verbarrikadiert. An den Fenstern hängen feuchte Laken gegen Brandgeruch und giftige Gase. Russlands Hauptstadt gleicht einem Ort nach dem GAU. Auch Vögel haben sie verlassen. Spatzen und Raben stürzten benommen vom Himmel. Sechs Menschen starben bei einer Karambolage. Die Fahrer der Unfallautos hatten im Smog der Innenstadt das entgegenkommende Fahrzeug nicht gesehen.

Seit einem Monat wüten die Feuersbrünste in Zentralrussland. Mehr als 50 Menschen sind den Flammen zum Opfer gefallen. Tausende von Häusern wurden vernichtet, an die 4.000 Menschen sind obdachlos. Südöstliche Winde treiben Rauchschwaden und Giftwolken unaufhörlich in die Hauptstadt.

Auch der Kreml, sonst omnipotentes Machtzentrum Russlands, ist im Smog verschwunden. Viel ist von dort zur verheerendsten ökologischen Katastrophe des letzten Jahrzehnts nicht zu vernehmen. Beunruhigende Nachrichten, die als Kontrolldefizit der politischen Führung gedeutet werden könnten, halten Behörden zurück. Die Schadstoffbelastung überstieg offiziellen Angaben zufolge die Normen um ein Vielfaches. Die Kohlenmonoxidemission liegt 6,5-mal über dem zulässigen Wert. Doch kaum ein Moskauer traut den staatlichen Messungen. Er verlässt sich auf seine Nase und den angegriffenen Rachen.

Nach offiziellen Berichten rückt der ärztliche Notdienst in Moskau häufiger aus. Um 15 Prozent sollen Notrufe zugenommen haben. Trifft die Zahl zu, so wäre es wie in jedem Jahr, wenn der Sommer etwas wärmer ist. Dieses Bild wollen die Machthaber erhalten. Denn sie fürchten, aus dem Feuer könnte ein politischer Flächenbrand entstehen.

Daher sind offiziell auch keine klaren Angaben zur Todesrate zu erhalten. Leichenhallen und Ärzte wurden angewiesen, keine Auskünfte zu erteilen. Bestatter räumen jedoch ein, dass sie rund um die Uhr im Einsatz seien. Inoffiziell sollen sich die Todesfälle mindestens verdreifacht haben.

Um den Schein der Normalität zu wahren, verhängten die Stadtbehörden auch kein Fahrverbot und forderten Industriebetriebe erst spät auf, schadstoffhaltige Produktion einzustellen. Zum ersten Mal wurden die Bewohner aber angehalten, nicht ins Freie zu gehen. Jahrmärkte und Museen machten zu. Auch die Ausflugsdampfer auf der Moskwa gingen vor Anker.

Moskaus leitender Amtsarzt, Gennadi Onischtschenko, gab Hausfrauen überdies ein paar „Überlebenstipps“: Fußböden häufiger nass wischen, mehrmals am Tag kalt duschen, Masken aufsetzen und Anstrengungen meiden. Atemmasken sind in den Apotheken jedoch vergriffen, auch Ventilatoren und Klimaanlagen sind ausverkauft.

Trotz der 180.000 Feuerwehrleute, Soldaten und Helfer hat sich die Lage kaum entspannt. Das Zivilschutzministerium verlegte Einheiten in die Notstandsgebiete um Moskau und löscht rund um die Uhr. Bislang wurden die Brände nachts nur überwacht. Aufgebrachte Bürger fragen, warum dies erst jetzt geschieht, und erinnern an das russische Sprichwort: „Bevor der Donner nicht grollt, wird der Pope sich nicht bekreuzigen.“ Einige westliche Botschaften reagierten schneller. Polen und Kanada zogen ihr Personal vorübergehend ab. Unterdessen eilt Premier Putin von Brandherd zu Brandherd und verspricht den Opfern großzügige Hilfen. Damit sie Entschädigungen und Wohnraum rechtzeitig erhalten, greift er auf eine ungewöhnliche Methode zurück: „Die größten Baustellen werden per Videokameras überwacht, mit Direktübertragung zu mir ins Büro und nach Hause.“ Putin kann seinen Beamten nicht trauen. Das ist auch der wahre Grund der Katastrophe.